Pulsierende Schmerzen, Übelkeit, Licht- und Lärmempfindlichkeit: Mehr als 900.000 Menschen kämpfen täglich in Deutschland mit einer Migräneattacke. Die Therapie macht Fortschritte, doch werfen Placeboeffekte ihre Schatten auf so manche Studie.
Weltweit versuchen zahlreiche Forscher, das Migränegeschehen auf molekularer Ebene zu verstehen. Ein internationales Konsortium entdeckte kürzlich eine Genregion, die für ein Transporteiweiß kodiert. Funktioniert dieses Protein infolge einer Anomalie im Erbgut nicht richtig, häuft sich Glutamat zwischen Nervenzellen an und führt zu deren Übererregung. Dieser Ansatz allein erklärt dabei nicht, welche Rolle Umwelteinflüsse spielen.
Im Auge des Wirbelsturms
Hier sind Kollegen aus dem Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) einen Schritt weiter gekommen. Sie machten mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie Aktivitätszyklen im Gehirn sichtbar. Dazu wurde das Trigeminus-System mit stechend riechendem Ammoniakgas provoziert. Migräne-Patienten reagierten während beschwerdefreier Phasen deutlich schwächer auf diesen Reiz als Mitglieder einer Kontrollgruppe. Die Aktivität entsprechender Gehirnbereiche erhöhte sich aber drastisch, wenn eine Attacke bevorstand, und sank dann langsam wieder ab. Daraus lässt sich ein Modell ableiten: „Migräne ist ein wiederkehrender Zustand mit starken Aktivitätszyklen im Gehirn“, so die Erkenntnis von Professor Dr. Arne May, Neurologe am UKE und Präsident der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft. Besonders der Trigeminusnerv glänzt hier durch Überaktivität und entsprechende Botenstoffen weiten nach der vaskularen Hypothese die Blutgefäße. Das Blut drückt rhythmisch gegen die Wände – eine mögliche Erklärung für die pulsierenden Schmerzen. Warum ein Migräneschub allerdings nach einiger Zeit von selbst abklingt, ist nach wie vor unbekannt.
Lust auf Süßes?
Viele Patienten suchen nach vorbeugenden Maßnahmen gegen ihre Kopfschmerzen. Tipps aus der Laienpresse erweisen sich dabei oft als haltlos: Schokolade beispielsweise ist nicht tabu, wie Professor Dr. Peter Kropp vom Uniklinikum Rostock berichtet. Vielmehr sei die Lust auf Süßes eher Signal einer bevorstehenden Migräne. Das gelte auch für Stimmungsschwankungen oder Heißhunger – Phänomene, die bereits einige Zeit vor den Kopfschmerzen zu beobachten sind. Hingegen können Risikopatienten durch den Verzicht auf Genussmittel verschiedenen Kopfschmerzformen vorbeugen, wie Kollegen durch eine Befragung von 5.800 norwegischen Jugendlichen herausfanden. Eine ähnliche Untersuchung machten Forscher aus Deutschland mit 1.260 Gymnasiasten. Wenig körperliche Aktivität sowie der Konsum von Alkohol und Tabak erhöhten das Kopfschmerzrisiko. Als weiterer Faktor wurde Übergewicht identifiziert. Der Rat aus der Forschung: Neben dem Verzicht auf Genussgifte sollten Betroffene Techniken der Stressbewältigung erlernen sowie Ausdauersportarten betreiben, etwa Schwimmen, Joggen oder Fahrradfahren.
Goldstandard – früh eingesetzt
Bei akuten Migräneschüben haben sich Triptane bewährt, jedoch erhalten nicht alle diesen Goldstandard. „Hierzulande bekommen nur rund zehn Prozent der Migräne-Betroffenen Triptane verordnet“, so Professor Dr. Andreas Straube von der Neurologischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hingegen läge die Rate in skandinavischen Ländern bei rund 33 Prozent. „Die Wirkung der Triptane ist am effektivsten, wenn sie schnell, in adäquater Dosierung und möglichst früh, also noch bei milder Schmerzintensität, eingenommen werden.“ Dann erlösen die Wirkstoffe bis zu 70 Prozent aller Patienten von ihren Schmerzen. Wartet man zu lange, sinkt die Erfolgsquote auf 40 Prozent.
Doch Triptan ist nicht gleich Triptan: Die einzelnen Vertreter unterscheiden sich darin, wie schnell die Wirkung eintritt, wie lange diese bestehen bleibt und wie stark der Effekt ist. Bleibt bei einem Arzneistoff der Effekt aus, kann der Wechsel durchaus lohnen, wie Kollegen im Rahmen mehrerer prospektiver, placebokontrollierter Doppelblindstudien herausfanden. „Letztlich sind die Unterschiede aber nicht so gravierend, dass ein Triptan alle anderen ausstechen würde“, so Straube. Das gute Nebenwirkungsprofil macht einzelne Vertreter der Wirkstoffklasse sogar für die Behandlung der Migräne in den Händen von Patienten geeignet: Nach Naratriptan ist jetzt ebenfalls Almotriptan ohne Rezept erhältlich.
Auch die Galenik ist entscheidend: Subkutanes Sumatriptan wirkt bereits nach zehn Minuten – bei Tabletten dauert es drei bis sechs Mal länger. Im Akutfall verspricht ein kürzlich eingeführter nadelfreier Pen eine leichte Handhabung: Mit hohem Druck lassen sich sechs Milligramm des Wirkstoffs in das Unterhautfettgewebe am Bauch bzw. Oberschenkel injizieren.
Ein neuer Stern am Migränehimmel
Für Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind Triptane jedoch tabu, sitzen verschiedene Subtypen des relevanten Serotonin-Rezeptors auch an Blutgefäßen außerhalb des Gehirns. Für diese Menschen fanden Wissenschaftler mit dem neuen Wirkstoff Lasmiditan eine therapeutische Option. Das Molekül bindet hochspezifisch an einen relevanten Subtyp des Serotonin-Rezeptors – ohne vasokonstriktorischen Effekt auf andere Systeme. Zurzeit läuft die Phase III der klinischen Prüfung. Kollegen behandelten jetzt in Rahmen einer Studie zur Dosisfindung 391 Patienten. Sie fanden einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Menge des Wirkstoffs und dem Effekt auf das Migränegeschehen innerhalb von 30 Minuten bis zwei Stunden. Auch Symptome wie Lichtempfindlichkeit oder Übelkeit gingen zurück.
Messer statt Medikament?
Auch die Chirurgie lieferte neue Erkenntnisse: Zahlreiche Patienten, die wegen Zornesfalten unters Messer kamen, hatten nach der OP deutlich weniger Migräneanfälle. Verringert sich der Druck verschiedener Muskeln auf benachbarte Nerven, so die Theorie, verschwinden auch die Beschwerden. Eine kürzlich erschienene Studie von Bahman Guyuron aus Cleveland, Ohio, ergab, dass von 69 Patienten auch nach fünf Jahren 20 vollkommen beschwerdefrei waren. Und bei 41 Probanden traten weniger bzw. schwächere Kopfschmerzanfälle auf. Doch haben Kollegen damit ein Patentrezept für alle Geplagten gefunden? „Das Geheimnis unseres Erfolges ist die sorgfältige Auswahl der Patienten“, sagt Privatdozent Dr. Thomas Muehlberger vom Migräne-Chirurgie-Zentrum Berlin. Ein kleiner Test bringt vor dem Eingriff Klarheit: Verbessert sich die Migräne durch Botox-Injektionen in die Schläfe, den Nacken oder die Stirn, je nachdem, wo die Kopfschmerzen beginnen, lohnt möglicherweise der Griff zum Messer.
Das erkannten auch Arzneimittelhersteller aus den USA. Bereits vor einigen Monaten konnten sie die Zulassung des Botulinumtoxins A um die Indikation der chronischen Migräne erweitern. In Studien setzen Kollegen Injektionen an sieben genau definierte Stellen von Kopf und Hals. Nach 24 Wochen verringerten sich die Beschwerden um 8,4 Tage im Vergleich zu 6,6 Tagen weniger unter Placebo. Laut den Autoren seien die Resultate signifikant, allerdings fiel ihnen ein starker Placeboeffekt auf, der seine Schatten auch auf die chirurgischen Untersuchungen aus Cleveland wirft.
Kürzlich ging Guyuron diesem Phänomen auf den Grund: Der Chirurg fand 76 geeignete Patienten und öffnete bei 26 die Kopfhaut zum Schein nur leicht, 49 kamen in den Genuss der echten Therapie. Nach einem Jahr gaben 41 Probanden, die tatsächlich operiert worden waren, deutlich weniger Schmerzen zu Protokoll und 28 hatten überhaupt keine Anfälle mehr. Der Wermutstropfen: Rund 50 Prozent der zum Schein Operierten ging es ebenfalls besser. Gänzlich beschwerdefrei war dabei jedoch nur ein Proband. Angesichts dieser Daten raten viele Neurologen aus Deutschland derzeit noch von dem Eingriff ab.