Der moderne Mensch ist ein übersäuertes Wesen. Das wollen uns Hersteller von basischen Nahrungsergänzungsmitteln weismachen. Die chronische Übersäuerung führe zu Erkrankungen wie Gicht, Krebs und Rheuma. Wissenschaftlich belegen können sie das nicht.
Rheuma, Arteriosklerose, chronische Müdigkeit, frühzeitige Hautalterung, Haarausfall, ein schlaffes Bindegewebe – glaubt man Herstellern von basischen Nahrungsergänzungsmitteln haben diese Krankheiten und Erscheinungen alle eine gemeinsame Ursache: die chronische Übersäuerung des Körpers. Mit der Angst vorm übersäuerten Organismus lässt sich mittlerweile gutes Geld verdienen. Produkte, die den Säure-Basen-Haushalt ausgleichen sollen, strömen mehr denn je auf den Markt. © Farmer's Snack / Screenshot: DocCheck Lebensmittel, wie zum Beispiel Trockenfrüchte aus dem Supermarkt, werden von Produzenten teilweise sogar mit einer „Basen-Skala“, von „leicht basisch“ bis „stark basisch“, gekennzeichnet. Auch in den sozialen Medien stößt das Thema auf große Resonanz. „Von der Schulmedizin mag sie oft noch ignoriert werden, doch in der Naturheilkunde gilt die Übersäuerung durch die moderne Ernährung als einer der schädlichsten aller gesundheitlichen Belastungsfaktoren“, konnte man in den Instagram-Stories der Influencerin Myra Snoflinga lesen, sie bezog sich wiederum auf eine Artikel der bei Praxisvita erschienen war. Quelle: Myra Snoflinga, Instagram-Stories. Screenshot: DocCheck „Kohlensäurehaltige Getränke können den Säure-Basen-Haushalt zusätzlich beeinflussen“, heißt es. Etliche Ratgeberseiten im Web scheinen dies zu bestätigen. Sogar „basische Kniestrümpfe“ gibt es mittlerweile. Sie werden vor dem Tragen mit einer Citratlösung getränkt und sollen uns über die angeblich sehr geeigneten Fußsohlen entsäuern. Was steckt hinter dem Mythos?
Dazu etwas Biochemie aus dem Grundstudium. In unserem Körper halten mehrere Puffersysteme den physiologisch erforderlichen pH-Wert aufrecht. Sie reagieren auf Säuren oder Basen mit deutlich geringeren pH-Änderungen als ungepufferte Systeme. Wichtige Vertreter sind:
Diese Systeme stabilisieren unseren pH-Wert und sorgen dafür, dass sich beispielsweise Enzyme in ihrem Wirkungsoptimum befinden. Schon geringe Verschiebungen ins Saure oder Basische würden ihre Wirkung als Biokatalysatoren beeinträchtigen.
Entgleisungen von Puffersystemen sind selten, führen aber zu schweren Funktionsstörungen. Ärzte kennen etwa respiratorische Azidosen. Bei diversen Lungenfunktionsstörungen ist die Abatmung von Kohlendioxid gestört. Es kommt zur Übersäuerung des Blutes, zu Tachykardie, pulmonaler Hypertonie und zum Anstieg des Blutdrucks. Hier kann eine künstliche Beatmung erforderlich sein. Ergänzend stehen Theophyllin und diverse Beta-Sympathomimetika zur Verfügung. Ansonsten kommen in der Praxis metabolische Azidosen vor. Dazu gehört die Ketoazidose bei Typ 1-Diabetes, sprich absolutem Insulinmangel. Acetessigsäure und β-Hydroxybuttersäure sammeln sich als Ketokörper im Blut an und vermindern dessen pH-Wert. Hier ist die Gabe von Insulin sowie eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr erforderlich. Hydrogencarbonat-Infusionen bringen keinen Mehrwert, fanden Wissenschaftler kürzlich heraus. Nephrologen haben ebenfalls mit Azidosen zu tun. Akutes Nierenversagen oder chronische Niereninsuffizienz führen zur verminderten Säureausscheidung und damit zur Retentionsazidose. Dann müssen Patienten zur Dialyse. Und nicht zuletzt aktiviert Sauerstoffmangel beim Schock, beim Herzstillstand oder beim diabetischen Koma anaerobe Stoffwechselpfade in Geweben. Saure Stoffwechselprodukte häufen sich an, und der pH-Wert sinkt. Intensivmedizinische Maßnahmen sind erforderlich, um die Sauerstoffzufuhr wieder zu gewährleisten.
Während Azidosen seltene, aber schwerwiegende Ereignisse sind, sprechen Befürworter basischer Nahrungsergänzungsmittel auch völlig gesunden Menschen die Fähigkeit ab, ihren Säure-Basen-Haushalt selbst zu regulieren. Sie stufen moderne Ernährungsgewohnheiten als schädlich, sprich säurebildend ein. Dazu zählen sie eiweißreiche Lebensmittel wie Fleisch, Milchprodukte, Brot und Backwaren. In dem Zusammenhang soll auch Sprudel, sprich Kohlensäure, schaden. Alkalisierend wirken Obst oder Gemüse aufgrund von organischen Salzen. Beispielsweise reagieren Citrate als Salze der Zitronensäure mit H+-Ionen und fangen die „Säureteilchen“ quasi ab. Da wir jedoch zu wenig Gesundes essen, übersäuert der Theorie zufolge unser Körper. Bei der Verdauung verschiedener Nahrungsmittel entstehen tatsächlich Säuren. Sie werden von gesunden Menschen einfach ausgeschieden, ohne dass es zu gesundheitlichen Problemen kommt. Oftmals erhalten Patienten Teststreifen, um ihren Urin zu untersuchen. Niedrige pH-Werte sollen vermeintlich beweisen, dass wir übersäuert sind. Verfechter der Lehre bringen damit zahlreiche Erkrankungen in Verbindung, etwa Allergien, Gicht, Krebs, Rheuma, Herzrhythmusstörungen oder Osteoporose. Bislang gibt es keine wissenschaftlichen Belege. Ein spezieller Aspekt wurde jedoch untersucht: Dass „säurereiche“ Ernährung die Knochen schwächt, ist recht unwahrscheinlich. Helen M. Macdonald von der Universität Aberdeen wollte wissen, ob basische Supplemente – wie behauptet – bei postmenopausalen Frauen gegen Osteoporose wirkt. Für ihre randomisierte kontrollierte Studie rekrutierte sie 276 gesunde Probandinnen zwischen 55 und 65 Jahren. Sie erhielten Kaliumcitrat in zwei unterschiedlichen Dosierungen, Placebo oder 300 g zusätzliches Obst und Gemüse pro Tag. Nach zwei Jahren fand Macdonald zwischen den Studienarmen keine signifikanten Unterschiede bei der Knochendichte.
Andreas Pfeiffer © Till Budde/DIfE Prof. Dr. Andreas Pfeiffer vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE) hält von der These, viele Menschen seien übersäuert, nichts. „Der Grund ist, dass Menschen den Säure-Basen Haushalt ihres Körpers sehr genau regeln können“, sagt er im Interview. „Die Säure im Blut wird sehr präzise reguliert durch zwei Regulationssysteme. Zum einen über die Lunge, wir können Säure quasi abatmen und dadurch das Blut alkalischer machen.“ Der Stoffwechsel komme mit hinzu. „Nur, wenn diese Systeme entgleisen, kommt es zu schweren Krankheiten.“ „Gute Pillen – schlechte Pillen“, ein pharmakritisches Portal, kommt zu ähnlichen Resultaten: „Die Theorie ignoriert die nachweislich korrekte wissenschaftliche Erkenntnis, dass der Körper den Säure-Basen-Haushalt in der Regel selbst im Gleichgewicht hält.“ Ausnahmen seien bestimmte Erkrankungen, etwa aus dem nephrologischen Bereich. „Das ist dann allerdings ein Fall für den Arzt – und nicht für Nahrungsergänzungsmittel.“ Kein Wunder, dass Ökotest Supplemente mies bewertet: „Fehlender Nutzen für den gesunden Verbraucher, überdosierte Inhaltsstoffe und eine lausige Deklaration führen zu diesem vernichtenden Urteil.“ Experten raten, eher Geld in Obst und Gemüse zu investieren. Was können Kunden daraus lernen? „Die natürlichen Puffersysteme des Körpers, eine ausgewogene Ernährung mit reichlich Gemüse und Obst, mäßig tierischen Lebensmitteln, viel Trinken sowie Bewegung schützen ausreichend vor Übersäuerung“, so fasste die Verbraucherzentrale Hessen in einer Broschüre den Sachstand zusammen. Nur damit lässt sich eben kein Geld verdienen.