Erste Hinweise lieferte das IQWiG 2009, jetzt erhärtet ein Fachblatt die Befürchtung: Der Wirkstoff Memantin wirke bei der Behandlung von milder Alzheimer-Erkrankung ebenso wenig wie bei mittelschweren Formen. Doch wie endgültig sind die Experten-Aussagen?
Als die Substanz im Jahr 2002 die Zulassung erhielt, schien nach Jahren des Stillstands der lang ersehnte Durchbruch im Kampf gegen Alzheimer und Demenz erreicht: Schon nach sechs Monaten, schwärmten Hersteller und viele Angehörige von Patienten gleichermaßen, sei eine signifikante Besserung zu erkennen. Denn der Wirkstoff bindet am NMDA-Rezeptor im Gehirn der Dementen, und blockiert auf diese Weise über einen sehr komlexen biochemischen Weg das Absterben von Nervenzellen. Der eigentliche Clou aber liegt darin, dass Memantin einen mit dem Rezeptor verbundenen Ionenkanal wieder freigibt, so dass die Patienten wieder lernen und sich an Dinge erinnern können. Ob Kognition, klinischer Gesamteindruck oder Alltagskompetenz – wie durch ein Wunder schienen die Menschen mit Demenz und Alzheimer gut abzuschneiden. Und wie man über Jahre hinweg unter Hinweis auf Studien und Herstellerangaben glaubte: Memantin sei Dank.
Klartext aus Kalifornien
Womöglich unterlagen Neurologen, Patienten und Angehörige einem Trugschluss, wie Lon S. Schneider von der University of Southern California Keck School of Medicine in Los Angeles und seine Kollegen nun publizieren. Schneider untersuchte Meta-Studien, Präsentationen, Vorträge und andere relevante Informationen – die allesamt von dem amerikanischen Hersteller gesponsert worden waren. Mit im Visier der Forscher waren gleich drei Studien, innerhalb derer 431 Patienten an einer milden Form der Alzheimer-Erkrankung litten, während 697 Patienten eine moderate Form der Erkrankung aufwiesen. Die Analyse sämtlicher Daten brachte ein beängstigendes Ergebnis zu tage, wie Schneider unverblümt erklärt: „Zwischen Memantin und Placebo gab es bei Patienten mit milder AD keinen signifikanten Unterschied im Outcome“. Auch für Patienten mit moderater AD sei der Nachweis einer Wirkung als eher „mager“ einzustufen, betonen die Kalifornier. Selbst in Kombination mit Cholinesterasehemmern sei die Wirkung von Memantin auf Basis der bestehenden Datenlage wenig belegbar, resümieren die Autoren.
Die Studie war so bemerkenswert, dass sich die American Medical Association sogar dazu entschloss, sie in ihrem wöchentlichen Info-Service an vorderster Stelle zu setzen und global zu verbreiten. Tatsächlich sind die Folgen unabsehbar – und stellen Neurologen auch hierzulande vor ernsthafte Probleme. Denn die Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) rät den behandelnden Ärzten, „eine Therapie mit Acetylcholinesterasehemmern bzw. bei einer mittelschweren bis schweren Demenz mit Memantin zu erwägen“, wie das Kompetenznetz Degenerative Medizin auf seinen Internetseiten informiert.
Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt
Ist Schneiders Publikation der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt? Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hatte im Abschlussbericht „Memantin bei Alzheimer Demenz“ auf den fehlenden Nutzen von Memantin hingewiesen. Im Jahr 2010 wiederum aktualisierte das Institut seine Analyse, weil der Hersteller des Medikaments neue klinische Daten der Studien IE2101 und MEM-MD-22 zur Verfügung stellte. Dabei handelte es sich um doppelblinde, placebokontrollierte Studien zur Monotherapie von Memantin bei Patienten mit moderater bis schwerer Alzheimer Demenz. Während IE2101 in Japan durchgeführt wurde, stammten die Daten von MEM-MD-22 aus den USA. Allerdings liefen beide Studien über den gleichen Zeitraum von 24 Wochen und schlossen 208 respektive 265 Patienten ein. „Sie waren damit von ähnlicher Dauer und Größe wie die übrigen relevanten Studien“, erklärte das IQWiG im Bericht Nr. 74 vor einem Jahr, und: „Weder aus den unpublizierten Studien IE2101 und MEM-MD-22 noch aus den von der Firma Merz neu berechneten Responderanalysen ergibt sich ein Nutzenbeleg für Memantin“.
Deutsche Nachbesserung: Nutzen mit 6-Monate Haltbarkeitsdatum
Doch was im Juli 2010 Gültigkeit hatte, ist seit Mai 2011 schon wieder Geschichte. Denn in einem jüngst veröffentlichten Nachtrag erfahren Ärzte und Apotheker: „Hinsichtlich der Vermeidung einer relevanten Verschlechterung im Bereich der kognitiven Leistungsfähigkeit ergibt sich der Beleg für einen Nutzen von Memantin bei Patienten mit Alzheimer Demenz. Im Bereich der alltagspraktischen Fähigkeiten ergibt sich bei Beachtung der unsicheren Responsekriterien und der gleichzeitig geringen Größe des Effekts ein Hinweis auf einen Nutzen von Memantin“.
Erst kein Nutzen, nun aber doch? DocCheck wollte auf Grund der verwirrenden Aussagen vom IQWiQ wissen, ob das Institut womöglich unter Druck des Herstellers so reagierte – immerhin geht es um einen Blockbuster mit einem Umsatz von rund 1,3 Milliarden Euro pro Jahr. „Das IQWiG wurde von der Firma Merz nicht verklagt und es wurde auch keine Klage angedroht“, betont Anna-Sabine Ernst, Kommunikationsleiterin des IQWiG, gegenüber DocCheck. Gleichwohl möchte die promovierte Politologin die Bewertungs-Änderungen keinesfalls als Persilschein für Memantin verstanden wissen. Der Grund: Auch die jetzt vorgelegten Ergebnisse zu den kognitiven und alltagspraktischen Fähigkeiten gelten „nur mit einer zeitlichen Einschränkung“, denn keine der Studien dauerte länger als 6 Monate. "Wir haben noch immer keine Langzeitstudien. Die wären aber gerade bei Alzheimer-Medikamenten, die in der Regel über Jahre eingenommen werden, dringend erforderlich", sagte IQWiG-Leiter Jürgen Windeler.
Für Ärzte und Apotheker sind das wenig charmante Nachrichten. Denn der Nutzen des Präparates lässt sich offensichtlich nachweisen, doch nur für eine Dauer von sechs Monaten. Darüber hinaus vergibt das IQWiG nach wie vor keinen Nutzungsbeleg – bisher wurden aber die Medikamente über Jahre hinweg verschrieben und von Patienten eingenommen. Neurologen müssen sich daher fragen: Ist nach einem halben Jahr die weitere Medikation ohne Belang? Und, weitaus wichtiger: Werden die Kassen der GKV die Kostenerstattung nach dem 6. Monat weiterhin übernehmen? Aus heutiger Sicht erscheint das wenig wahrscheinlich, zumal das IQWiG die Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses direkt als beratende Institution beeinflusst. Wer als niedergelassener Arzt zukünftig die Antidementiva länger als 6 Monate verschreibt, läuft womöglich Gefahr, in Zukunft Regressforderungen abwehren zu müssen - das IQWiG verwandelt den Wirkstoff in ein Medikament mit beschränkter Therapie-Anwendungsdauer.
Vor allem das Doppelback Cholinesterasehemmer und Memantin galt bislang als Speerspitze im Kampf gegen Alzheimer und Demenz, über 55 Prozent der verschriebenen definierten Tagesdosen an Antidementiva gehören zu dieser Kategorie. Mehr als 33 Millionen DDD an Cholinesterasehemmern und rund 20 Millionen DDD Memantin gehen jährlich über den Apotheker-Thresen.
Britisches Hickhack mit juristischem Nachspiel
Neben Memantin werden jedoch auch die Cholinesterasehemmer kontrovers diskutiert. Vor allem in Großbritannien sorgte die Expertise des National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) bereits vor einem Jahrzehnt für Debatten: Eine erste Bewertung im Januar 2001 war für diese Antidementiva positiv ausgefallen. Bei einer erneuten Prüfung kam NICE jedoch im März 2005 zu einem negativen Befund, demzufolge Cholinesterasehemmer künftig nicht mehr zu Lasten des nationalen Gesundheitsdienstes NHS verordnet werden sollten. In einer überarbeiteten Fassung vom November 2006 wiederum wurde der begrenzte Einsatz in einem mittelschweren Stadium der Erkrankung befürwortet, nicht jedoch für Patienten in einem frühen oder weit fortgeschrittenen Stadium. „Wegen dieser eingeschränkten Empfehlung wurde NICE - erstmalig in seiner Geschichte - von einer Herstellerfirma verklagt“, kritisiert das IQWiG.
Was Neurologen im Praxisalltag vom Wirrwarr halten sollen, bleibt dabei ganz ihnen überlassen – und die Entscheidung über die sinnvolle Medikation ebenso.
Fest steht: Auch bei den Cholinesterasehemmern passierte jüngst Kurioses. Nach der Klage wartete das NICE mit einem neuen Report auf, der im März 2011 das Licht der Welt erblickte – und somit einen Monat vor der Studie aus Kalifornien. Fazit der verklagten britischen Behörde: Memantin und Cholinesterasehemmer sollten Ärzte doch wieder einsetzen.
Der Hersteller von Memantin setzt hierzulande jedenfalls weiterhin auf seinen Blockbuster, wie bereits das Vorwort des Geschäftsberichts 2010 zu erkennen gibt: „Die Wachstumsdynamik des Dementivums ist ungebrochen: Memantine behauptet auch in diesem Geschäftsjahr seine starke Position als das weltweit am zweithäufigsten verordnete Antidementivum“.