Seit dem 10. Mai rollt eine Reisewelle der besonderen Art von Norden nach Süden: Infektionen mit EHEC-Darmbakterien breiten sich über das ganze Land aus. Mittlerweile sind rund 400 Patienten erkrankt, auch von ersten Todesfällen berichten die Behörden. Sie empfehlen grundlegende Hygieneregeln – therapeutisch lässt sich nur wenig machen.
Escherichia coli besiedelt den Dickdarm von Mensch und Tier. Dessen böse Stiefmutter, das enterohämorrhagische Escherichia coli (EHEC), hat zusätzliche genetische Elemente mit an Bord, die ihm pathogene Eigenschaften verleihen. Dr. Rolf Steinmüller von der schottischen Neogen Corporation bewertet diese als „eine der größten mikrobiologischen Herausforderungen an die Lebensmittelindustrie seit dem Botulismus“ – vor allem rohes Fleisch, nicht pasteurisierte Milchprodukte sowie Obst und Gemüse gelten als Infektionsquellen. Und Bakteriologen charakterisieren EHECs mit der Bezeichnung O157:H7. „O“ beschreibt dabei spezielle Lipopolysaccharide, also Zucker und Fette in der Membran, und „H“ genetische Eigenschaften der Geißeln. Andere Varianten sind auch bekannt.
Sherlock Holmes im weißen Kittel
Mit kriminalistischem Spürsinn sind Wissenschaftler des Berliner Robert Koch-Instituts (RKI) auf der Suche nach der Quelle dieser Infektionen. Sie befragen Erkrankte und analysieren Nahrungsmittel. Eine heiße Spur führte jetzt in eine Frankfurter Kantine, dort hatten 19 kürzlich Erkrankte gegessen. Doch dieses Mal ist alles deutlich schwieriger – die Forscher schließen nach jetzigem Stand tierische Produkte als Übeltäter aus. Ihre Suche konzentriert sich auf Obst oder Gemüse. Aber auch andere Lebensmittel wären zum gegenwärtigen Zeitpunkt denkbar, so Vertreter der Gesundheitsbehörden. Aufgrund des Ausbruchs liegt die Wurzel allen Übels wahrscheinlich in Norddeutschland.
Selten sind EHEC-Infektionen nicht – seit der Einführung der bundesweiten Meldepflicht im Jahr 2001 registrieren die Behörden pro Jahr zwischen 800 und 1200 Erkrankungen. Damit gilt das Bakterium bei Experten als zweithäufigster Erreger entzündlicher Magen-Darm-Erkrankungen. Lediglich Salmonellen können diese Zahlen noch toppen. Schwere Verläufe waren aber jenseits der üblichen Risikogruppen eher die Ausnahme. Experten erstaunt jetzt vor allem, dass viele Erwachsene, oftmals Frauen, erkranken. „Klassisch sind Schulkinder auf dem Bauernhof“, so RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher. Auch sei die Schwere der Fälle untypisch. „Diese Entwicklung übersteigt jedes historische Maß“, warnt der Mikrobiologe Professor Dr. Werner Solbach vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Vorsicht, freilaufende Bakterien
Gerade Wiederkäuer – Kühe, Ziegen oder Schafe – sind oftmals schuldig im Sinne der Anklage. Veterinäre vermuten, dass vor allem Getreidenahrung bei Tieren, die eigentlich nur Gras oder Heu fressen, das Darmmilieu stört, so dass sich EHECs ansiedeln können. Entsprechende Futtermittel sind seit den 1980er Jahren üblich, parallel findet man in der Literatur erste Berichte von Infektionen. Nach der Ausscheidung bleiben die Bakterien in der Umwelt noch einige Wochen aktiv. Gelangen Bakterien über Gülle auf Nahrungsmittel, die roh bzw. ungewaschen verzehrt werden, kommt es zur Erkrankung. Dafür reichen bereits rund 100 Bakterien aus. Auch Fleisch und Rohmilch können bei unsauberer Verarbeitung kontaminiert sein.
Nach der Mahlzeit beginnt die Reise im Verdauungssystem. Durch spezielle Adaptationssysteme unempfindlich gegen die aggressive Magensäure, gelangen EHECs kurzerhand in den Darm. Nach einer Latenzzeit von etwa ein bis drei Tagen kommt es zu schweren, blutigen Durchfällen, begleitet von krampfartigen Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Körperzellen umprogrammiert
Erst einmal am Ziel, haken sich EHECs mit speziellen Eiweißen kurzerhand im Darm fest. Forscher des Braunschweiger Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) gingen diesen Mechanismen auf den Grund: Vor allem das zelluläre Korsett, sprich Aktin, wird von den Eindringlingen umprogrammiert. Ausstülpungen entstehen, auf denen sich die Eindringlinge quasi festkrallen können. Auch bei starkem Durchfall bleiben sie im Darm und werden nicht heraus gespült. „Grundvoraussetzung für diesen Signalweg ist ein spezielles Sekretionssystem – eine Art molekulare Spritze, durch die Bakterien ganze Proteine in die Wirtszelle einschleusen“, weiß die Zellbiologin Professor Dr. Theresia Stradal. Entscheidend sind hier die Faktoren Tir und EspFU. Tir wird auf der Oberfläche der Wirtszelle präsentiert, und ein Bakterium kann andocken. Hingegen gibt EspFU den Startschuss, um das Skelett der Darmzellen umzubauen. Die Rückkopplung erfolgt über ein weiteres molekulares Bindeglied, so dass der Umbau von Aktinstrukturen an Stellen mit Bakterien gehäuft auftritt.
Derart fixiert, pumpen EHECs das Killer-Eiweiß Verotoxin direkt in das Lumen des Darms. Diese Substanz gilt neben dem Botulinumtoxin als eines der stärksten natürlichen Gifte. Verotoxin hemmt speziell die Synthese von Proteinen in der Zelle und führt zum Untergang des betroffenen Gewebes. Über Blutgefäße bzw. Lymphbahnen können zahlreiche Organsysteme in Mitleidenschaft gezogen werden, etwa die Nieren, der Dickdarm, das Nervensystem oder die Bauchspeicheldrüse. Das Toxin scheint gezielt gegen kleine Blutgefäße in den Nierenkörperchen gerichtet zu sein. Deren Zerstörung führt zum hämolytisch-urämischen Syndrom, Untersuchungen zufolge sind bis zu zehn Prozent aller Infizierten betroffen. Zeigt die Laboruntersuchung eine Blutarmut durch den Abbau von Erythrozyten und ist auch die Zahl der Blutplättchen verringert, sprechen Kollegen von einer thrombotisch-thrombozytopenischen Purpura. Bei manchen Patienten entzündet sich zudem die Schleimhaut des Dickdarms, bekannt als hämorrhagische Colitis. Patienten informieren – Panik vermeiden
Dem haben Kollegen wenig entgegen zu setzen: Laut der Leitlinie „Akute infektiöse Gastroenteritis“ sollten keine Antibiotika verabreicht werden. Der Erfolg ist aufgrund von Resistenzen mehr als fraglich, und eine stärkere Freisetzung von Giftstoffen kann nicht ausgeschlossen werden. Vielmehr steht der symptomatische Ansatz im Mittelpunkt – Elektrolyte sind bei Durchfällen angezeigt, und schwerere Verläufe müssen ohnehin stationär behandelt werden. Beim hämolytisch-urämischen Syndrom kommt man um eine forcierte Diurese oder eine Dialyse nicht herum. Und nicht zu vergessen: Auch genesene Patienten scheiden teilweise noch über mehrere Monate infektiöse Keime aus. Strikte Vorschriften sollen verhindern, dass sie die Infektion in der Familie oder am Arbeitsplatz weiter verbreiten.
Bleibt noch die Prophylaxe: Für Patienten haben Epidemiologen des Bundesamts für Risikobewertung (BfR) einen Leitfaden erarbeitet. Neben selbstverständlichen Hygienemaßnahmen wie Hände waschen raten sie zu einer strikten Hygiene in der Küche – Schneidebretter aus Holz sowie Putzlappen gelten als Paradiese für ungebetene Gäste. Und Obst beziehungsweise Gemüse sollte gewaschen werden; rohe Fleischprodukte sind momentan vom Speisezettel ganz zu streichen. „Weil EHEC-Bakterien vor allem bei Wiederkäuern vorkommen, müssen Milch und Fleisch dieser Tierarten vor dem Verzehr ausreichend erhitzt werden“, rät BfR-Präsident Professor Dr. Dr. Andreas Hensel. Der altbekannte Spruch „Peel it, boil it, cook it – or forget it“ hat auch im Jahr 2011 nicht an Aktualität eingebüßt.
Doch auch die Unterstützung von Kollegen ist gefragt: Das BfR legt Ärzten nahe, bei Personen mit blutigem Durchfall umgehend einen EHEC-Nachweis führen lassen. Fällt dieser positiv aus, ist eine Meldung an die zuständigen Gesundheitsämter Pflicht. Dann sollten auch Proben an das Nationale Referenzzentrum für Salmonellen und andere Enteritiserreger in Wernigerode gehen.