Mittlerweile haben sich mehr als 2.000 Patienten mit EHEC angesteckt. Ein Ende der Infektionswelle ist noch lange nicht in Sicht. Jetzt keimt Hoffnung auf: Der Antikörper Eculizumab scheint bei schweren Fällen zu helfen – Experten mahnen aber, nichts zu überstürzen. Die Datenlage ist mehr als dürftig und nicht immer schlägt das Präparat an.
EHEC-Bakterien gelangen über kontaminierte Nahrungsmittel in den Körper und verankern sich im Darm. Mit fatalen Folgen: Das bakterielle Gift Verotoxin aktiviert Bestandteile des Immunsystems, Überreaktionen sind vorprogrammiert. Vor allem die Innenwände kleiner Blutgefäße stehen unter Dauerbeschuss, aber auch Blutplättchen sowie rote Blutkörperchen gehen zu Grunde. Ohne ausreichende Versorgung stellen die Niere schlussendlich den Dienst ein. Aber auch von neurologischen Symptomen berichten immer mehr Intensivmediziner. Gezielte Therapien gab es gegen dieses so genannte hämolytisch-urämische Syndrom (HUS) bis dato keine. Kollegen versuchen, das schädigende Toxin durch Blutwäsche aus dem Körper zu entfernen. Alternativ kann Blutplasma ausgetauscht werden, pro Person sind fünf bis sechs Plasmaspenden erforderlich. Doch bei schweren Fällen versagen alle Methoden - und die Panik wächst.
Drei Wunder in einer Veröffentlichung
Seit 2009 berichten Wissenschaftler mehrfach vom Einsatz des monoklonalen Antikörpers Eculizumab beim hämolytisch-urämischen Syndrom, vor wenigen Tagen im „New England Journal of Medicine“: Trotz Plasmatausch kam es laut Professor Dr. Franz Schaefer vom Uniklinikum in Heidelberg bei drei kleinen Patienten zu Beeinträchtigungen des zentralen Nervensystems. Die behandelnden Ärzte griffen zum Antikörper – und erlebten beeindruckende Erfolge: Der Gesundheitszustand habe sich „binnen 24 Stunden nach der ersten Infusion dramatisch verbessert“. Teilweise verabreichte man weitere Dosen, die Blutwäsche konnte aber bald eingestellt werden. Und nach neun, 20 bzw. 35 Tagen verließen die Patienten ihre Klinik, noch mit leichtem Bluthochdruck und erhöhten Eiweißwerten im Urin. Sechs Monate später waren auch diese Symptome abgeklungen.
Neue Therapie, neues Glück?
Der Artikel im „New England Journal of Medicine“ kam genau zum richtigen Zeitpunkt und schlug sofort hohe Wellen: Seit dem 28. Mai setzen einige Kliniken Eculizumab versuchsweise ein, viele Ärzte sind aber skeptisch. Tatsächlich liegen nur handverlesene Erfahrungswerte bei Kindern vor, größere Studien fehlen. „Es nützt etwas, ist aber kein Wundermittel“, so der Kommentar von Professor Dr. Hermann Haller, Klinik für Nieren- und Hochdruckerkrankungen an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). „Bei einem Patienten hat die Hämolyse deutlich nachgelassen. Nach meinem Eindruck hat Eculizumab bei diesem Patienten geholfen“, ergänzt Professor Dr. Andreas Kribben vom Uniklinikum Essen. Auch am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) behandeln Nephrologen bereits rund zehn Patienten mit Eculizumab. Jetzt hat die Deutsche Gesellschaft für Nephrologie (DGfN) dem Antikörper quasi einen Notnagel-Status verliehen. Ihre Empfehlung lautet, Eculizumab als „Rescue-Medikation“ einzusetzen, sollten andere Verfahren versagen. „Über Risikoprofil und Erfolg der Therapie lässt sich derzeit noch keine sichere Aussage treffen“, betont DGfN-Präsident Professor Dr. Reinhard Brunkhorst. Und Professor Dr. Rolf Stahl vom UKE fügt hinzu: „Erst in einigen Wochen werden wir wissen, wie erfolgreich diese Therapie sein wird“.
Nach der anfänglichen Hochstimmung häufen sich mehr und mehr auch die kritischen Stimmen. Von einem Wundermedikament ist nur noch selten die Rede. Kliniken berichten, bei manchen Patienten wirke die Therapie, bei anderen bleibe der Effekt aus. Die Gründe sind aber unklar. Professor Dr. Ulf Panzer vom UKE warnt: „Es ist einfach noch zu früh zu sagen: Wir haben hier ein Mittel“. Neue Aufgaben für ein altes Protein
Eculizumab ist eigentlich ein alter Bekannter auf dem Arzneimittelmarkt: Der Antikörper steht seit 2007 zur Behandlung der recht seltenen paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie (PNH) zur Verfügung. Forscher fanden bei diesen Patienten eine Mutation im Erbgut, so dass ein wichtiges Oberflächeneiweiß auf roten Blutkörperchen fehlt. Ohne diesen Schutzfaktor sind die Erythrozyten dem Immunsystem hemmungslos ausgeliefert. Speziell das Komplementsystem, eine Kaskade aus etlichen Proteinen, kommt zum Zug. Eigentlich dafür geschaffen, um bakterielle Eindringlinge und gealterte Erythrozyten zum Abschuss frei zu geben, markiert es diese mit einem Signalmolekül. Dann greifen Fresszellen an und vernichten die Organellen. Ohne eine Abschirmung gehen auch intakte rote Blutkörperchen über den Jordan, und es kommt zur Blutarmut. Dabei bekommen mehr als 50 Prozent der PNH-Patienten eine Thrombose, 30 Prozent sterben daran. Kurzfristig helfen Transfusionen von roten Blutkörperchen, auch biotechnologisch hergestelltes Erythropoetin hat sich bewährt. Eculizumab hingegen bindet an ein Protein mit dem Namen C5 und verhindert so die Aktivierung der besagten Komplementkaskade. Das Medikament wurde in mehreren Phase III-Studien geprüft. Es verringerte bei bis zu 87 Prozent aller Probanden die Hämolyse. Auch verbesserten sich Erschöpfungszustände, und Thromboembolien gingen um 85 Prozent zurück.
Puzzleteile fest gebunden
Auch bei Patienten, die nach einer Infektion ein HUS entwickelten, ist das Komplementsystem außer Rand und Band geraten. Bereits 2009 fand ein internationales Forscherteam, dass Toxine aus EHEC-Keimen immunologische Prozesse ankurbeln. Eculizumab nimmt das Schlüsselmolekül C5 in die molekulare Zange. Derart ausgeschaltet, kann das Komplementsystem weder rote Blutkörperchen zerstören noch Entzündungsprozesse schüren. Pharmakologen konnten nachweisen, dass bei Serumspiegeln von etwa 35 Mikrogramm pro Milliliter die hämolytische Aktivität des Immunsystems vollständig unterbunden wird. Entsprechende Werte lassen sich mit 600 Milligramm des Antikörpers einmal wöchentlich erreichen. Als häufigste unerwünschte Wirkungen traten Kopfschmerzen, Schwindel, gastrointestinale Beschwerden sowie diverse Infekte auf. Besonders Meningokokken gefährden die Patienten, da Eculizumab die körpereigene Abwehr gegen diesen Erreger unterdrückt. Ein entsprechender Impfschutz vor Therapiebeginn wird dringend empfohlen.
Tausche Daten gegen Arzneimittel
Entwickelt hat Eculizumab das kleine US-amerikanischen Unternehmen Alexion Pharmaceuticals, und zwar als einziges Produkt. Zusammen mit Lonza wird der Antikörper unter dem Namen Soliris® vertrieben. Das Tochterunternehmen Alexion Germany hat jetzt angeboten, Eculizumab für Patienten mit erworbenem hämolytisch-urämischem Syndrom kostenfrei abzugeben. Eine Dosis schlägt ansonsten mit knapp 6.000 Euro zu Buche. Jedoch müssen Ärzte begründen, warum sie die Therapie für nötig erachten.
„Wenn alle Papiere zusammen sind, dauert es 24 Stunden, bis das Medikament in der Klinik ankommt“, weiß der Nephrologe Andreas Kribben. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass eine Zulassung für diese Indikation fehlt. Auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie können Ärzte von ihren Erfahrungen berichten. Die Daten sollen publiziert werden, aber auch an den Hersteller gehen. Analysten sehen jetzt große Chancen für die Hersteller, sollte es zu einer Erweiterung der Indikation kommen.