Eine evidenzbasierte Hörsturz-Therapie sucht man vergebens. Kollegen fragen sich häufig, ob sie wirklich ein separates Krankheitsbild vor sich haben oder nur ein Symptom, hinter dem verschiedene pathophysiologische Prozesse stecken.
Keine Seltenheit in der HNO-Praxis: Verschiedenen Untersuchungen zufolge erleiden von 100.000 Menschen etwa 160 bis 400 pro Jahr einen Hörsturz. In der Regel ist nur ein Ohr betroffen und bei 85 Prozent der Patienten kommt ein Tinnitus mit hinzu. Auch klagen rund 30 Prozent über Schwindel.
Viele Wege führen ins Ohr
Wie es zum Hörsturz kommt, ist für Wissenschaftler immer noch ein Rätsel. Zumindest existieren zahlreiche mehr oder minder untermauerte Hypothesen, etwa Hinweise auf Durchblutungsstörungen. In einer Literaturübersicht konnten bei drei Prozent der Fälle vaskuläre Ursachen identifiziert werden. Zuletzt zeigte auch eine Kohortenstudie mit rund 1400 Teilnehmern, dass deren Risiko, nach einem Hörsturz in den nächsten Jahren einen Schlaganfall zu erleiden, 1,64 Mal höher ist als bei der Kontrollgruppe. Kollegen raten deshalb, Patienten gegebenenfalls internistisch und kardiologisch zu untersuchen.
Als weitere Größen werden virale Infektionen oder Autoimmunerkrankungen heiß diskutiert. Auf molekularer Ebene versuchen Forscher zudem, Störungen in den Ionenkanälen schallempfindlicher Haarzellen zu identifizieren. Blutgefäße in der Außenwand der Gehörschnecke stehen ebenso in Verdacht: Unter permanentem Stress ausgeschüttetes Adrenalin könnte diese kontrahieren und damit zu einer schlechteren Versorgung des Areals führen. Als Folge gehen Verschaltungen zwischen Haarzellen und Nervenzellen zu Grunde, lautet die Hypothese der Wissenschaftler. Doch so viel ist zumindest sicher: Risikofaktoren für einen Hörsturz sind Parameter, die gleichzeitig einen Herzinfarkt auslösen können, etwa Stress, ein hoher Blutdruck, zu viele Blutfette oder Diabetes mellitus.
Abwarten und Tee trinken?
Immer wieder ist bei Hörstürzen von spontanen Heilungen zu lesen, je nach Studie in bis zu 90 Prozent aller Fälle. Wozu also eine teure und zeitaufwändige Therapie durchziehen? Der Haken: Oftmals wurden nur retrospektive Auswertungen oder nicht kontrollierte Studien veröffentlicht. Auch berichten Autoren teilweise von einer Besserung der Symptome oder von einer kompletten Remission, so dass Zahlen nicht immer vergleichbar sind.
Abwarten und beobachten ist dennoch ein möglicher Weg – nicht jeder Hörsturz muss behandelt werden. Von der Einstufung als medizinischer Notfall sind Kollegen mittlerweile abgekommen. Vor allem bei hohem Leidensdruck sollte jedoch nichts unversucht bleiben – eine starke Einschränkung der Lebensqualität rechtfertige grundsätzlich Therapieversuche, heißt es in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde. Diverse Möglichkeiten lassen sich schnell auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Ihnen fehlt die Evidenz. Trotzdem rät das Papier, einen Versuch mit Hydroxyethylstärke oder Glucocorticoiden zu machen.
Goldstandard war gestern
Einst das Mittel der Wahl, sehen Forscher den Nutzen von Glucocorticoiden heute weitaus kritischer. Eine ältere Metaanalyse der Cochrane Collaboration führte zu dem verheerenden Ergebnis, dass diese Arzneistoffe keinen klaren Vorteil gegenüber Placebo oder anderen Behandlungsformen hätten. Mittlerweile liegen aber mehrere prospektive, randomisierte und kontrollierte Studien vor, die eine Erfolgsquote von 59 bis 87 Prozent zu Papier bringen. Das Gehör verbesserte sich im Schnitt um 12 bis 19 Dezibel im Bereich hoher Frequenzen sowie um 20 bis 34 Dezibel bei mittleren und tiefen Tönen. Lediglich eine Forschergruppe gab die komplette Heilung unter Glucocorticoiden an – mit 36 Prozent. Als Plan B haben Kollegen die Arzneimittel mit gutem Erfolg direkt in das Mittelohr appliziert, hochwertige Studien mit großen Patientenkollektiven stehen noch aus.
Bei Hörstürzen, die gar nicht auf Glucocorticoide ansprechen, gibt es möglicherweise bald eine Alternative: Japanische Forscher verabreichten lokal ein Gelatine-Hydrogel mit dem Wachstumsfaktor IGF-1. Dieses körpereigene Eiweiß, so die Theorie, bremst den Zelltod in geschädigten Regionen. Bei 56 Prozent der Patienten verbesserte sich in den nächsten Monaten das Gehör deutlich – weitere Untersuchungen sind in Arbeit.
Blut verdünnt, Problem gelöst?
Auch auf in Blut verdünnende Stoffe setzten HNO-Ärzte lange Zeit große Hoffnungen. Sie vermuteten bei Patienten einen erhöhten Gehalt an Fibrinogen und damit verbunden eine schlechtere Durchblutung in der Gehörschnecke. Zur Behandlung dient klassisch gelöste Hydroxyethylstärke (HES) in Form von Infusionen. Doch konnte der Vorteil gegenüber Corticoiden nicht zweifelsfrei belegt werden. Im Rahmen einer Literaturübersicht wurden dazu Studien mit hoher Evidenz ausgewertet. Das Gehör der Verum-Gruppe verbesserte sich bei 55 bis 79 Prozent der Hörsturz-Patienten um 10 bis 14 Dezibel im Hochtonbereich beziehungsweise 18 bis 26 Dezibel im restlichen Geräuschspektrum – schlechtere Ergebnisse als bei der Glucocorticoid-Behandlung, und das bei deutlich höherem Aufwand. Nur wenige Fachartikel gingen auf die Zahl der kompletten Remissionen ein, die Zahlen schwankten zwischen 14 und 50 Prozent.
In einer weiteren Veröffentlichung verglichen Kollegen bei 210 Patienten den Effekt von HES mit einer Glucose-Lösung. Ihr Fazit: Nach sieben Tagen ergab sich eine Verbesserung des Gehörs im Vergleich zu Placebo – aber nur bei Patienten mit erhöhtem Blutdruck sowie mit spätem Therapiebeginn von 48 Stunden und mehr nach dem Hörsturz. Kritiker bemängelten an der Arbeit, dass selbst das Placebo die Durchblutung des Innenohrs möglicherweise über Volumeneffekte verbessert habe.
Auch mit den Nebenwirkungen von HES ist nicht zu spaßen: Gaben von deutlich mehr als 300 Gramm der Verbindung führten zu einer Ablagerung im Gewebe und damit zu therapieresistentem Juckreiz. Anaphylaktische Schocks wurden in Einzelfällen ebenfalls beobachtet.
Manche Kliniken waschen Fibrinogen als mögliche Wurzel allen Übels kurzerhand aus dem Blut: Mit der selektiven Apherese lässt sich der Gerinnungsfaktor abtrennen, und das Plasma gelangt zurück in den Kreislauf. Jedoch überzeugten die Ergebnisse im Vergleich zu Plasmaexpandern oder Glucocorticoiden auch nicht wirklich.
Aus der eigenen Tasche
Angesichts der fehlenden Evidenz müssen Versicherte die Hörsturz-Therapieversuche immer öfter selbst bezahlen. Zwar dürfen Kollegen Hydroxyethylstärke oder Glucocorticoide theoretisch zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherungen verschreiben. Vor einem möglichen Regress ist bei diesen Präparaten ohne Evidenz niemand sicher – nur der Griff zum Privatrezept kann helfen. Da mag durchaus erstaunen, dass die weitaus teurere Behandlung in Tageskliniken oder in teilstationärem Krankenhausaufenthalt manchmal noch übernommen wird.
Das Thema wurde vorgeschlagen von unserem Leser Siegfried Gerdesmann.