Unbekannte Infektionsquellen und überfüllte Krankenhäuser in Norddeutschland: DocCheck sprach mit Professor Dr. Jan Galle, dem Direktor der Klinik für Nephrologie und Dialyseverfahren am Klinikum Lüdenscheid über den aktuellen Stand der EHEC-Welle.
Herr Professor Galle, laut der Seuchenkontrollbehörde ECDC sind allein in Deutschland 1536 Patienten mit dem enterohämorrhagischen Escherichia coli (EHEC) infiziert, bei 627 Patienten entwickelte sich ein hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS). Wie bewerten Sie zum aktuellen Zeitpunkt den Verlauf der Infektionswelle?
Zum Glück ist der Höhepunkt mittlerweile überschritten, die Zahl der Neuerkrankungen nimmt langsam ab. Wir haben das Schlimmste überstanden, dürfen aber nicht vergessen, dass sich bei EHEC-Patienten ein HUS erst fünf bis zehn Tage nach dem Auftreten der Durchfälle bemerkbar macht. Solange uns die Quelle der Erreger Rätsel aufgibt, rechne ich nicht mit einem Rückgang auf das Level früherer Jahre. Unter Verdacht stehen sicher an erster Stelle verunreinigte Lebensmittel. Wir können aber auch Schmierinfektionen, sprich die Übertragung von Mensch zu Mensch, zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausschließen.
Apropos Quelle: Gurken, Tomaten, Blattsalate und Sprossen gerieten in die Schusslinie, später wurde teilweise zurückgerudert. Verbraucher sind zunehmend verunsichert – Ihr Rat?
In Nordrhein-Westfalen oder Bayern würde ich mir weniger Sorgen um Gemüse vom heimischen Feld machen. Schleswig-Holsteins oder Bremens Verbraucher hingegen sollten auf Rohkost gänzlich verzichten und ihre Tomaten beispielsweise im Backrohr grillen. Sprossen würde ich momentan bundesweit vom Speiseplan streichen. Solange wir die genaue Ursache nicht kennen, bleiben eben nur derart allgemeine Warnungen. Ich kann auch nicht ausschließen, dass der Verursacher nie gefunden wird, sollten etwa kontaminierte Produkte längst außer Handels sein. Dass Wissenschaftler beispielsweise an Sprossen aus Niedersachsen keine EHEC-Keime gefunden haben, heißt nicht, dass frühere Chargen in Ordnung waren. Auch Fleisch und Rohmilchprodukte sind immer noch nicht frei von allem Zweifel, sie waren für Erkrankungsfälle in früheren Jahren verantwortlich. Dennoch wäre mir wichtig, dass die Landwirte für ihre größtenteils unverschuldeten Verluste entschädigt werden.
Zurück zu den Patienten: Wie ist die Situation in Kliniken?
Unsere Kapazitäten an Blutplasma oder Dialysegeräten reichen aus, um die Lage zu meistern. Relativ früh haben sich Kollegen über das Netzwerk der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie ausgetauscht und so die Ressourcen je nach Bedarf organisiert. Eine Plasmaspende lässt sich beispielsweise leicht von München nach Hamburg transportieren. Und leichter Erkrankte können in andere Kliniken außerhalb Norddeutschlands verlegt werden, beispielsweise vom Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf nach Düsseldorf, Essen oder Lüdenscheid. Mit Intensivpatienten ist das nicht möglich. Und so kam es im Norden dennoch zur Bettenknappheit. Auch zu wenig Fachpersonal stand zur Verfügung, trotz der Flexibilität vieler Kollegen.
Schlugen Plasmapherese oder Dialyse nicht an, setzten Nephrologen den Antikörper Eculizumab off label ein. Eine Erfolgsgeschichte?
Diese Frage lässt sich jetzt noch nicht abschließend beantworten. Klinken berichten sowohl vom Ansprechen der Behandlung als auch von Therapieversagen. Momentan gilt unsere Empfehlung, mit Eculizumab als Second Line-Therapie zu arbeiten, wenn die klassischen Methoden versagen und es zu einer lebensbedrohlichen Situation kommt. Parallel sammeln wir über ein Register der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie Daten und werden diese nach der Auswertung umgehend veröffentlichen. Die Fachgesellschaft plant zur Entlastung der Kollegen auch, Teams in Kliniken zu schicken und Fakten vor Ort zu erfassen.
Vielerorts steht auch die Frage der Finanzierung im Raum. Bleiben Kliniken nach allem Engagement jetzt auf den Kosten sitzen?
Alle Personen im Gesundheitswesen haben mitgeholfen, ohne auf den Geldbeutel zu schauen. Jetzt muss in der Tat auf Ebene der Spitzenverbände gesprochen werden. Viele Häuser haben beispielsweise die im Jahr zuvor mit den Kostenträgern verhandelten Budgets für Plasmapherese, somit eben jetzt für HUS-Patienten, um ein Vielfaches überzogen. Versicherer müssen nachlegen, um die Einrichtungen nicht im Regen stehen zu lassen. Auch über die teilweise geplanten Kürzungen der Patientenkontingente ist erneut zu diskutieren.
Das Robert Koch-Institut ist in Berlin zunehmend in die Kritik geraten. Vorgeworfen wird den obersten Seuchenhütern eine zu langsame Reaktion sowie eine allzu schnelle Festlegung auf Gemüse. Welche Lehren können wir aus der Erkrankungswelle ziehen, medizinisch wie politisch?
Aus medizinischer Sicht ist für mich ganz klar: Wir haben alles richtig gemacht. Seit die ersten HUS-Fälle am 22. Mai bekannt geworden sind, hat sich binnen weniger Stunden und Tage eine riesige Maschinerie in Gang gesetzt, haben sich Kollegen über Netzwerke auf den neuesten Stand gebracht und die flächendeckende medizinische Versorgung sichergestellt. Molekularbiologen konnten das Genom des Erregers sequenzieren und fanden eine Chimäre mit vier relevanten Genen. Und Labormediziner entwickelten umgehend einen Schnelltest, der sich nicht nur bei Patienten bewährt hat, sondern auch die rasche Überprüfung von Lebensmittel gewährleistet. In Kliniken wiederum kam der Antikörper Eculizumab zum Einsatz. Wahrscheinlich hat er einige Menschenleben gerettet. Ganz klar: Medizinisch haben wir uns richtig verhalten. Dennoch bleibt die Frage, ob auch Deutschland zentrale Strukturen wie das US-amerikanische Center for Disease Control, CDC, braucht. Das sollten wir nach der EHEC-Welle diskutieren - auf fachlicher Basis und nicht unter parteipolitischem Kalkül.
Herr Professor Galle, vielen herzlichen Dank!