Für den rasanten Zuwachs an Gichtpatienten wurde eine mögliche Erklärung gefunden. Eine Studie zeigt: Jeder, der regelmäßig fructosehaltige Limonaden konsumiert, hat ein erhöhtes Risiko, an Gicht zu erkranken. Schon wenige Softdrinks in der Woche erhöhen das Risiko deutlich.
Seit den 1970er-Jahren hat sich die Zahl an Gichtpatienten verdreifacht, berichtet Hyon K. Choi von der University of British Columbia, Vancouver. Mittlerweile sind ein bis zwei Prozent aller Menschen in Europa und in den USA betroffen. Am Essverhalten kann es nicht liegen. Der Konsum von Fleisch, Fisch oder Hülsenfrüchten, den bekanntesten Quellen von Purinen, hat sich nicht grundlegend verändert. Bei Softdrinks sieht die Sache schon anders aus.
Akuter Gichtanfall im Großzehengrundgelenk. © Gonzosft / Wikimedia Commons, CC BY 3.0 Choi begleitete 46.393 erwachsene, gesunde Männer über zwölf Jahre. Er registrierte alle Lebensgewohnheiten. Während dieser Zeit erkrankten 755 Personen an Gicht. Als entscheidenden Faktor identifizierte der Wissenschaftler fructosehaltige Softdrinks. Das Risiko erhöhte sich um 45 Prozent für eine Portion und um 85 Prozent für zwei oder mehr Softdrinks pro Tag. Eine große Metaanalyse bestätigte diese Erkenntnis. Joseph Jamnik von der University of Toronto fand bei Literaturrecherchen Studien mit 125.299 Teilnehmern und 1.533 Patienten. Das Follow-up lag bei 17 Jahren. Forscher teilten alle Probanden nach ihrem Fructosekonsum in fünf Gruppen ein. Personen mit der höchsten Aufnahme hatten ein um 62 Prozent höheres Gichtrisiko, verglichen mit der niedrigsten Gruppe. Der Effekt war also dosisabhängig. Subklinische Hyperurikämien blieben jedoch unbemerkt, da Wissenschaftler nicht bei allen Probanden Harnsäurewerte erfasst hatten. Mittlerweile gibt es auch Erklärungen für dieses Phänomen: Fructose wird unter Verbrauch von ATP (Adenosintriphosphat) phosphoryliert. Es kommt zur Akkumulation von ADP (Adenosindiphosphat) und AMP (Adenylat). Überschüssiges AMP wird zu Inosinmonophosphat (IMP) und weiter zu Harnsäure verstoffwechselt. Trotz dieser Problematik greifen Getränkehersteller immer häufiger zu High Fructose Corn Syrup, einem Maissirup mit Glucose und Fructose. Auch die Konsumenten schlagen kräftig zu. Zwischen 2012 (31,5 Liter) und 2016 (36,8 Liter) hat sich der Konsum zuckerhaltiger Colagetränke pro Kopf und Jahr weiter erhöht. Zuckerhaltige Limonaden (36,6 versus 26,4 Liter) brachen zwar ein. Die Gesamtmenge bleibt aber auf hohem Niveau, nicht nur in Deutschland. Choi rechnet auch in nächster Zeit mit steigenden Fallzahlen.
Angesichts dieser Prognose überrascht es nicht, dass seit Ende 2016 die erste S2e-Leitlinie zur Gichtarthritis vorliegt. Bei der Akuttherapie stehen Glukokortikoide, NSAIDs oder Colchicin nach wie vor an erster Stelle. Alternativ kommt Canakinumab zum Einsatz. Der monoklonale Antikörper richtet sich gegen Interleukin-1 beta als Botenstoff. Um langfristig einen Harnsäure-Zielwert von weniger als 6,0 mg/dl zu erreichen, verordnen Ärzte Allopurinol oder Febuxostat. Sollten diese Urikostatika nicht zum Erfolg führen, bleiben noch Urikosurika wie Benzbromaron oder Probenecid. Als Urikolytikum nennt die Leitlinie pegylierte, langwirksame langwirksamen Urikase. Die Autoren empfehlen, bei Beginn einer Harnsäure-senkenden Therapie niedrig dosierte Wirkstoffe zur Anfallsprophylaxe einzusetzen. In den USA steht außerdem Lesinurad zur Verfügung. Der Wirkstoff hemmt URAT1, ein Transportprotein zur Regulierung des Harnsäurespiegels im Blut. URAT1 ist für die Urat-Rückresorption in den Nieren verantwortlich. Lesinurad wird zusammen mit einem Xanthinoxidase-Hemmstoff verordnet – vielleicht auch bald in Europa. Grünes Licht kommt vom Committee for Medicinal Products for Human Use (CHMP). Damit geben sich Forscher aber nicht zufrieden. Sie suchen nach weiteren Targets für Arzneistoffe.
Natriumurat-Kristall in der Gelenksflüssigkeit, Aufnahme in polarisiertem Licht. © Bobjgalindo / Wikimedia Commons, CC-BY-SA 4.0 Professor Dr. Alexander Weber von der Universität Tübingen kritisiert, bislang verfügbare Therapien zielten in erster Linie auf deutlich später einsetzende Symptome ab. Im Zuge weiterer Untersuchungen stieß Webers Team auf Brutons Tyrosinkinase (BTK). Das bekannte Enzym spielt nicht nur bei der Immunschwäche Morbus Bruton eine Rolle, sondern auch bei inflammatorischen Vorgängen durch Gicht. „Wir konnten zeigen, dass eine Hemmung von BTK experimentell das Entzündungsgeschehen stark bremsen kann“, sagt Weber. Er arbeitete mit Ibrutinib. Dieser Inhibitor ist bereits zur Therapie maligner Erkrankungen zugelassen. Doch welche Rolle spielen kristalline Ablagerungen? Zwar ist bekannt, dass Salze der Harnsäure Entzündungen auslösen. „Das galt bisher eher als passive Zellzerstörung“, so Professor Hans-Joachim Anders von der Medizinischen Klinik der LMU. „Es ist aber ein aktiv regulierter Mechanismus, der zum direkten Zelltod führt.“ Anders fand zusammen mit Kollegen heraus, dass Kristalle bei Nieren- und Bindegewebszellen eine Form der regulierten Nekrose in Gang setzen. Der neue Signalweg eignet sich vielleicht als Ansatzpunkt für Medikamente. Wird er unterbunden, kommt es nicht zum Zelltod, so die Hypothese.
Mit innovativen Pharmaka hoffen Forscher, Patienten noch besser vor langfristigen Folgen zu bewahren. Es geht aber nicht nur um renale und orthopädische Leiden. „Es liegen mittlerweile zahlreiche Studien vor, in denen sich gezeigt hat, dass die Sterblichkeit mit der Konzentration der Harnsäure im Blut assoziiert ist“, berichtet Professor Dr. Christian Holubarsch, Kardiologe am Park-Klinikum Bad Krozingen. „Auch wenn die Evidenz noch nicht klar ist, gibt es doch Studiendaten, die indirekte Hinweise liefern und dafür sprechen, dass hier ein kausaler Zusammenhang besteht.“ Dies gilt für Herzinfarkte, Herzinsuffizienzen und für Schlaganfälle. Jasvinder A. Singh vom Birmingham VA Medical Center hat erstmals gezeigt, dass Patienten aus kardiovaskulärem Blickwinkel von niedrigeren Harnsäurewerten profitieren. Er wertete Daten von 30.000 Versicherten mit Allopurinol-Verschreibung aus. Sie waren mindestens 65 Jahre alt. Nach der Korrektur über eine multivariate Analyse zeigte sich, dass der Wirkstoff das Herzinfarktrisiko um 15 Prozent verringert. Als Mechanismen diskutiert Singh antioxidative, antiischämischee und antihypertensive Effekte. Was genau im Körper passiert, ist nach wie vor Gegenstand von Forschungsprojekten. Möglichwerweise liegt eine weitere Lösung außerhalb von Labors oder Kliniken. Beim letzten Ärztetag forderten die Delegierten mehr gesundheitliche Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen. Sie können sich ein Schulfach ‚Gesundheit‘ inklusive Ernährungslehre vorstellen. Wer bei Speisen und Getränken das richtige Maß findet, braucht - von Einzelfällen abgesehen - auch keine Pharmakotherapie.