Wer die DNA von unkontrolliert wachsenden Tumorzellen untersucht, findet dort ein scheinbar wüstes Durcheinander von Mutationen: Translokationen, Basenpaaraustausche und unterschiedliche Chromosomensätze. Die Ergebnisse des Krebsgenomprojekts sollen schon bald zeigen, welche Mutationen entscheidend für das Schicksal eines Krebsklons sind.
Die Theorie ist zu simpel, um den Kern der Geschichte zu erfassen. Warum wird aus einer normalen Zelle irgendwann einmal eine Krebszelle? Im Laufe ihres Lebens sorgen Einflüsse von außen und innen für immer mehr Mutationen - Stellen, an denen die Buchstabenfolge, der Satzbau oder gar ganze Kapitel im DNA-Buch nicht mehr so da stehen, wie sie am Anfang geschrieben wurden. Irgendwann ist es dann einmal passiert. Aber welche Mutationen sind die entscheidenden beim Übergang zum ewigen Zellleben und welche bestimmen, wie schnell der Klon wuchert und vielleicht sogar in andere Gewebe auswandert?
Um aufzuklären, wie aus dem wohl geordneten Text ein Buchstabensalat wird und welche Bedeutung Fehler in einzelnen Kapiteln haben, soll das „Krebsgenomprojekt“ mehr als 25.000 Genome von Krebspatienten sequenzieren, die aus rund 50 verschiedenen Krebsarten stammen. Eine Mammutaufgabe wartet auf Forscher in Deutschland, Australien, China, Indien, Spanien, England, den USA und einigen anderen beteiligten Staaten.
Passenger- und Driver-Mutationen
Nicht alle Mutationen einer Krebszelle haben dabei die gleiche Bedeutung. Die meisten Veränderungen im DNA-Code sind so genannte „Passenger-Mutationen“. Sie entstehen im Laufe vieler Zellteilungen des Klons, sind aber nicht für das Überleben und das rasche Wachstum entscheidend. Viel seltener sind die „Driver“. Sie verleihen dem Tumorklon einen Wachstumsvorteil gegenüber normalen Zellen. Sie sorgen auch für die Ausbreitung des Klons in andere Gewebe. Genau diese DNA-Aberrationen sind auch das Ziel für neue Wirkstoffe gegen den Tumor.
Bisher haben Forscher etwa 400 dieser mutierten Schlüsselgene für einzelne Tumoren entdeckt, das sind etwa zwei Prozent aller proteinkodierenden Gene. Berühmt-berüchtigt ist etwa die ABL-Kinase, die bei der häufigen 9:22-Translokation bei CML konstitutiv exprimiert ist. Ein entsprechender Inhibitor, Imatinib, hat zu großen Erfolgen bei der Behandlung geführt. Trastuzumab ist ein wirkungsvoller Antikörper in der Brustkrebs-Therapie, der sich gegen die Dauerpräsenz des epidermalen Wachstumsfaktorrezeptor HER2/neu richtet; Her2-positive Patientinnen haben eine eher schlechte Prognose. Krebsgene: Wenige Veränderungen reichen zur malignen Transformation
Dank neuer Sequenziermethoden wissen wir nun, dass in den meisten Krebsarten wie etwa Mamma-, Ovarial-, Kolorektal-, Pankreaskarzinomen wie auch Gliomen zwischen 1.000 und 10.000 somatische Mutationen aufgetreten sind. Krebsarten mit wenigen Aberrationen sind beispielsweise testikuläre Keimzelltumoren und akute Leukämien. Extrem viele Mutationen finden sich dagegen in Krebsarten, die direkten Kontakt mit schädigenden Umwelteinflüssen haben. Dazu gehören Lungenkrebs (Tabak) und Melanome (UV-Strahlung), die weit mehr als 100.000 Mutationen in ihrem Genom sammeln.
Lange Zeit galt für die entscheidenden „Krebs-Gene“, dass etwa fünf davon verändert sind, wenn aus der differenzierten Körperzelle eine wuchernde Tumorzelle wird. Inzwischen zweifeln die Krebsgenom-Spezialisten, dass es eine solche Regel gibt. Bei hämatopoetischen Neoplasien sind meist wenige dieser Schüsselgene mutiert. Wahrscheinlich, so schreibt Michael Stratton vom Wellcome Trust Sanger Institut im englischen Cambridge in einem „Science“-Review, dürften sich in den nächsten Jahren noch etliche weitere DNA-Abschnitte mit Normabweichung als entscheidend für die Tumorentwicklung herausstellen und so zu bisher unbekannten Krebsgenen werden. DNA-Methylierung: Indikator für Metastasen
Viele der bisher entdeckten Driver-Mutationen betreffen Gene, die an der Chromatinmodifikation und damit an der Regulation der DNA-Expression beteiligt sind. Unter Krebsgenen finden sich Histonmethylasen oder Methyl-Transferasen, die die DNA methylieren. Die Beispiele zeigen, dass nicht nur die Sequenz der Gene bei der Tumorentstehung entscheidet, sondern auch die epigenetischen Mechanismen. Einen Beleg dafür liefert eine Publikation in „Science Translational Medicine“ von Ende März. Timothy Chan vom New Yorker Memorial Sloan Kettering Cancer Center zeigt dabei an Gewebeproben von Mammakarzinom-Patientinnen, dass der Methylierungsstatus der Tumor-DNA eine Voraussage dafür liefert, ob die Krebszelle Metastasen ausbildet. Ein hoher Methylierungsgrad bedeutet damit eine günstige Prognose, während unmethylierte DNA für Metastasen und geringe Überlebensdauer spricht. Die meisten jener Gene, die bisher mit der Auswanderung von Tumorzellen in andere Gewebe in Verbindung gebracht wurden, waren bei den entsprechenden Proben dabei durch Methylgruppen geschützt.
Wenige „Metastasen-Gene“
Ein Vergleich der Daten für Brustkrebs mit Proben von Patienten mit Kolon-Karzinom oder einem Gliom zeigt, dass dieses Prinzip universal ist. Auch bei ihnen prognostiziert der Methylierungsgrad die Entwicklung eines Tumors.
Ob solche Störungen beim An- und Ausschalten von Genen direkt mit Mutationen von Krebsgenen assoziiert sind, ist im Moment noch nicht klar. Die bisherigen Ergebnisse des Krebsgenom-Projekts deuten darauf hin, dass die Zahl an „Metastasen-Genen“ ziemlich überschaubar ist. Möglicherweise spielt daher die Epigenetik eine größere Rolle als Mutationen, die die Funktion des entsprechenden Proteins beeinflussen. Genprofil-Analyse: Werkzeug für Onkologen
Auf dem Weg zu einer personalisierten Krebs-Medizin sollte der immens große Aufwand des Sequenzierungsprojekts in den nächsten Jahren sowohl zu neuen Wirkstoffen als auch zu genaueren Prognosen für die Patienten führen. Schon jetzt hat die FDA (amerikanische Arzneimittelbehörde) etwa für Brustkrebs einen Genprofil-Test über 70 Gene genehmigt. Genauso wie ein 21-Gen-Assay der Konkurrenz erlaubt er Voraussagen über den Erfolg einer Chemotherapie und ein mögliches Rezidiv des Tumors. Ähnliche Tests gibt es auch für Darmkrebs und akute myeloische Leukämie.
Dass es aber selbst nach der Sequenzierung mehrerer zehntausend Krebsgenome nicht so simpel sein wird, die entsprechenden Profile einfach mit der Datenbank zu vergleichen und die Chancen für eine erfolgreiche Therapie herauszulesen, zeigen Untersuchungen an soliden Tumoren. Im Unterschied zu vielen Leukämien sind dort viele Krebsgene in weniger als 10 Prozent aller Proben eines bestimmten Tumors mutiert. Die Regeln für die ungehemmte Vermehrung von Tumorzellen scheinen viel komplizierter als anfangs gedacht zu sein.