Das amerikanische Standardwerk zur Diagnose mentaler Störungen "DSM-5" soll nach 15 Jahren Vorarbeit übernächstes Jahr in einer Neuauflage erscheinen. Eine scheinbare Aufweichung der Krankheitskriterien hat den Herausgebern Kritik eingetragen.
„Wir kommen an den Punkt, wo es kaum noch möglich ist, ohne geistige Störung durchs Leben zu kommen - oder zwei oder eine Handvoll“, sagt Allen Frances. Der Mann, der ein solch vernichtendes Urteil spricht, ist selber Psychologe. Unter seiner Regie entstand eines der beiden maßgeblichen Diagnostik-Handbücher (neben ICD-10) aller praktizierenden Psychiater weltweit: DSM-IV. (Diagnostik and Statistical Manual of Mental Disorders) herausgegeben von der APA, der amerikanischen Psychologenvereinigung. Was ihn so erzürnt, sind Änderungen im Nachfolgewerk DSM-5.
Reformbedarf durch neu entdeckte Verwandtschaften
Das Werk soll eigentlich einen Standard setzen. Überall sollen Ärzte Schizophrenie oder eine Depression nach den gleichen Kriterien diagnostizieren. Große internationale Studien sollen mit vergleichbaren Probanden neue Erkenntnisse liefern. Schließlich bilden einheitliche Diagnosen die Grundlage für Therapie-Leitlinien und die Abrechnung durch die Krankenkassen.
Warum aber eine Neuauflage der seit 1994 geltenden Kriterien? Alan Schatzberg von der APA beschreibt die Notwendigkeit aufgrund neuer Erkenntnisse: „Einige Symptome, von denen wir gedacht haben, sie hätten nicht viel miteinander zu tun, sind in Wirklichkeit viel ähnlicher und oft nur Varianten derselben Krankheit.“ Weit gefasste Klassifikationskriterien lösten etwa eine Flut von Fällen mit Bipolarer Störung aus. Viele pubertäre Teenager mit Stimmungsschwankungen bekamen so Medikamente, die sie gar nicht benötigten. In der Literatur tauchten schließlich neue Formen der Abhängigkeit auf. Die Drogen der letzten Jahrzehnte sind etwa Glücksspiel und das Internet auf dem heimischen Computer. Daneben soll es in Zukunft als ungewohnte mentale Verirrung auch eine „hypersexuelle Störung“ geben, deren Symptome zum Beispiel durch den Golfstar Tiger Woods bekannt wurden.
Zwischen gesund und psychotisch
Lange Zeit, seit den ersten Beratungen im Jahr 1999 und auch nach mehr als ein Dutzend Konferenzen der Arbeitsgruppen und der Task-Force, waren kaum Details über die Neuerungen zu erfahren. Die rund 400 Teilnehmer hatten ein vertraglich verordnetes Schweigegebot. Anfangs des Jahres 2010 wurden dann die ersten Details des neuen Werks bekannt. Den wichtigsten Punkt erläutert Wolfgang Gaebel von der Universität Düsseldorf. Er ist einer der nichtamerikanischen Mitarbeiter, die etwas die Hälfte des Arbeitsteams ausmachen: „Nun bekommen auch abgemilderte Krankheitsformen einen diagnostischen Wert.“ Diese dimensionale Einteilung löst ein „Ja oder Nein“-System ab, nach dem ab einer bestimmten Anzahl hinweisgebender Symptome der Patient den entsprechenden Krankheitsstempel bekam, bei weniger war er gesund.
Neue mentale Störungen wie ein „abgeschwächtes Psychose-Syndrom“ oder „Milde neurokognitive Schwächen“ sind jedoch schwer von Schwankungen im Normalbereich zu unterscheiden. Dementsprechend entzündet sich an diesem Punkt besonders heftige Kritik am Reformwerk. Denn was als Vorstufe zur entsprechenden Krankheit gelten und Patient und Arzt zu entsprechender Aufmerksamkeit anspornen soll, entpuppt sich für die Mehrzahl der Fälle als falscher Alarm. Nur etwa 30 Prozent der potentiell psychotischen Teenager entwickeln tatsächlich ein behandelnswertes Leiden. Viel höher sei dagegen das Risiko, dass sehr kreative oder gar hochbegabte Kinder wegen ihrer „Abartigkeit“ als psychotisch eingestuft werden - ein Stempel, der sich auch im späteren Leben nicht einfach wegwischen lässt.
Frances zählt noch weitere Beispiele auf. „Binge Eating“ - eine Essstörung, bei der der Heißhunger große Essensmengen auf einmal vom Teller verschwinden lässt. „Um die Kriterien dafür zu erfüllen, müsste ich in drei Monaten nur einmal in der Woche eine solche Attacke haben - wahrscheinlich bin ich damit ein Betroffener“ - wie rund sechs Prozent der Bevölkerung. Auch bei Angststörungen reichen nur wenige Punkte auf der Checkliste aus, um ein Fall für den Psychiater zu werden.
Mehr als 8.000 Kommentare via Internet
Die Entscheidung, in Zukunft das „Asperger-Syndrom“ verschwinden zu lassen und nur mehr eine „Störung im autistischen Umfeld“ festzustellen, hat zu einem Aufstand Betroffener geführt, die gegen die Reform mit über 400 Mitmachern in einer virtuellen Facebook-Gemeinde protestieren.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde DGPPN rief im vergangenen Jahr ihre Mitglieder auf, möglichst fleissig Kommentare im Internet zu den Vorschlägen der Arbeitsgruppen zu posten. Innerhalb weniger Wochen gingen dann tatsächlich mehr als 8.000 Beiträge ein. Bis zum 15. Juli 2011 gibt es abermals eine Möglichkeit zum kritischen Feedback. Zum ersten Mal in der Geschichte des Manuals kann auch der gemeine Patient oder unbeteiligten Mitleser seine Meinung zu den Entscheidungshilfen für seinen (zukünftigen) Arzt loswerden. Im Herbst dieses Jahres sollen schließlich Daten aus Feldversuchen in Praxen zeigen, ob das neue System auch die Wirklichkeit des psychiatrischen Alltags übersteht. Im Sommer 2013 fällt dann voraussichtlich der endgültige Startschuss.
Einfluss auf ICD-10
Das Werk ist auch wegen seiner enormen Reichweite so heftig umstritten. Eine mentale Störung entscheidet nicht selten einen Streit ums Sorgerecht und heftet dem Träger ein lebenslanges Stigma an. Die Pharmaindustrie berechnet Bedarf und Gewinnprognosen aus der Häufigkeit von Depression, Hyperaktivität oder Demenz. Von der Task-Force hatten noch nie zuvor so viele Mitglieder Kontakte zur Industrie. Kein Wunder, dass von Kritikern der Vorwurf von Interessenkonflikten auftaucht. Einige Mitglieder des Teams wie etwa die Psychologin Jane Costello wollte die Entscheidungen im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht mehr weiter mittragen und schied freiwillig aus der Arbeitsgruppe aus.
Schließlich dürfte DSM-5 auch die in Deutschland gebräuchlichen ICD-10 Kriterien entscheidend beeinflussen. Im Amerika rufen dagegen Kritiker dazu auf, sich von 2013 an nach dem WHO-System von ICD-10 zu richten und sich nicht an die diagnostischen Standards der APA zu halten, die beinahe fließende Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit definieren. Ob diese kritischen Stimmen bis ins Herz der DSM-5 Task-Force durchdringen? Alan Schatzberg von der APA gibt sich diplomatisch: „Bei DSM-5 ist immer noch sehr viel in Bewegung - die vorgeschlagenen Änderungen sind keinesfalls endgültig.“