Wachkoma oder nicht – das ist eine hoch relevante Frage in der Intensivmedizin. Klinisch ist die Abgrenzung des Wachkomas vom Zustand des minimalen Bewusstseins extrem heikel. Eine belgische Arbeitsgruppe bringt jetzt eine mögliche EEG-Diagnostik in die Diskussion.
Nur wenige andere Arbeitsgruppen haben sich um die Erforschung des Komas in den letzten Jahrzehnten so verdient gemacht wie die belgische Coma Science Group um den Wissenschaftler Steven Laureys an der Universität Liège. Und aus genau dieser Gruppe kommt jetzt eine neue Studie, die das Potenzial hat, die klinische Bewusstseinsdiagnostik auf neue Füße zu stellen. Mélanie Boly, eine Kollegin von Laureys, hat mit Hilfe komplexer statistischer Werkzeuge die „Datenübertragung“ im Gehirn bei eingeschränktem und fehlendem Bewusstsein analysiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass der assoziative Cortex im Wachkoma ein Kommunikationsproblem hat, das für diese Patienten relativ spezifisch ist und das potenziell mittels EEG nachweisbar sein könnte.
Wachkoma-Patienten sind oft noch bei (minimalem) Bewusstsein
Doch der Reihe nach. Breite Schlagzeilen machten Laureys und seine Kollegen vor einigen Jahren mit einer Reihe von Untersuchungen, in denen sie nachweisen konnten, dass sich ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Patienten, die von Klinikern als im Wachkoma befindlich angesehen werden, tatsächlich im Stadium des minimalen Bewusstseins (Minimally Conscious State, MCS) befinden. In einer dieser Studien lag die entsprechende Quote bei über 40 Prozent. Ähnliche Daten hatte zuvor auch schon die Gruppe von Nancy Child aus Austin, Texas erhoben.
Die Abgrenzung des Wachkomas, das auch als apallisches Syndrom oder vegetativer Zustand bezeichnet wird, vom MCS ist seit Jahren ein viel diskutiertes Thema. Beim Wachkoma haben Patienten über Jahre hinweg zwar tagsüber die Augen offen, zeigen aber keinerlei Hinweis auf willentliche Regungen. Demgegenüber reagieren Patienten im MCS zumindest gelegentlich auf ihre Umwelt, können teilweise hören oder sehen und auf Gesprochenes reagieren. Das MCS kann ein Übergangszustand bei Patienten sein, die langsam aus einem Wachkoma erwachen. Es kann aber auch jahrelang anhalten, und dann ist es vom Wachkoma klinisch kaum zu unterscheiden. Denn wie Wachkomapatienten sind auch MCS-Patienten nicht bei Bewusstsein im üblichen Sinne. Sie wirken oft auf den ersten und auch auf den zweiten Blick ganz genauso wie Wachkomapatienten.
Fokus auf Frontal- und Temporallappen
Klinisch ist die Unterscheidung insofern wichtig, als die Chance, aus einem MCS-Zustand zu erwachen, deutlich größer ist als die Wahrscheinlichkeit, aus einem Wachkoma zu erwachen. Laureys und andere beschäftigen sich deswegen seit Jahren damit, wie sich Wachkoma und MCS besser voneinander abgrenzen lassen. Das klassische EEG half da bisher nicht weiter. Zwar deutet ein Nulllinien-EEG bei einem Koma-Patienten auf einen Hirntod hin. Wachkoma-Patienten sind aber nicht hirntot. Als Alternative wurden deswegen bildgebende Methoden evaluiert, unter anderem die funktionelle MRT und die Positronenemissionstomographie (PET). Der mittels PET gemessene globale Glukoseumsatz des Gehirns ist im Wachkoma deutlich geringer als bei vollem Bewusstsein. Es gibt aber in Einzelfällen sowohl gesunde Menschen mit geringem als auch Wachkoma-Patienten mit hohem Glukoseumsatz. Das bringt klinisch also auch nichts. Erfolgversprechender war in einer Reihe von Studien die Analyse des Glukoseumsatzes im Frontal- und Temporallappen, jenen Arealen also, in denen die assoziativen Hirnfunktionen beheimatet sind.
Das Bewusstsein macht längere Schleifen
Ein Problem bei allen bildgebenden Verfahren ist, dass sie im klinischen Alltag relativ unpraktikabel sind. Wer will schon einen Koma-Patienten in einen MRT- oder PET-Scanner fahren und dort komplexe Untersuchungen machen? Die Erkenntnisse aus den Bildgebungsstudien könnten aber dazu beitragen, dass weniger aufwändige diagnostische Methoden doch wieder ein Revival erfahren. Genau das hat sich Mélanie Boly zur Aufgabe gemacht. Wie sie in der Fachzeitschrift Science berichtet, hat sie bei acht Patienten im Wachkoma, 13 Patienten mit MCS und 22 gesunden Kontrollprobanden elektrische Potenziale im Gehirn analysiert. Diese Potenziale geben Auskunft darüber, welche Art der Kommunikation ein bestimmter Hirnbereich, in diesem Fall Frontal- und Temporallappen, bei den unterschiedlichen Bewusstseinszuständen ausübt. Ein besonderes Augenmerk richtete sie dabei auf so genannte evozierte, ereignisbezogene Potenziale (ERP). Sie entstehen als Reaktion auf Sinnesreize, beispielweise Töne, und haben unterschiedliche Komponenten, die Rückschlüsse darüber erlauben, was Frontal- und Temporallappen mit den eingehenden „Daten“ machen. Bei Wachkoma-Patienten waren die entsprechenden Potenziale mit rund 100 Millisekunden relativ kurz. Bei MCS-Patienten dagegen wurden – ähnliche wie bei den gesunden Kontrollprobanden – ERP mit langer Latenz von bis zu 170 Millisekunden beobachtet. Die Interpretation lautet nun, dass beim Wachkoma die Sinnesreize zwar den frontalen und temporalen Cortex erreichen, die gewissermaßen „rückwärts“ gerichtete Weiterverarbeitung der Reize aus diesen Assoziativregionen hin zu tiefer gelegenen Hirnregionen aber – anders als bei Patienten mit minimalem Restbewusstsein – nicht funktioniert.
„Wir brauchen größere Patientenpopulationen“
Auf Nachfrage von DocCheck betonte Boly, dass damit eine EEG-gestützte Abgrenzung zwischen beiden Bewusstseinszuständen zumindest denkbar werde: „Ein EEG ist tragbar, und das ist ein großer Vorteil für den klinischen Einsatz. Grundsätzlich könnten diese Messungen in eine Standard-EEG-Untersuchung integriert werden.“ Die Expertin betont allerdings auch, dass es derzeit noch deutlich zu früh sei, um über einen klinischen Einsatz ernsthaft reden zu können. „Was wir bis jetzt haben, sind Daten zu einer sehr begrenzten Zahl von Patienten. Wir brauchen größere Patientenpopulationen, und wir müssen auch dringend den prognostischen Wert der EEG-Antwort in diesen Populationen evaluieren.“ Unklar ist bis auf weiteres auch, ob die beobachteten EEG-Antworten auf den akustischen Reiz über längere Zeiträume stabil sind oder sich in Art und Ausprägung ständig ändern.