Adipositas entwickelt sich immer mehr zum globalen Problem. Doch dieser Herausforderung stehen kaum befriedigende Therapiemöglichkeiten gegenüber. Bei schweren Fällen bringen immer noch chirurgische Eingriffe die besten Resultate.
Mittlerweile haben in Deutschland etwa 30 Prozent aller Männer und 40 Prozent aller Frauen einen Body Mass Index (BMI) von 30 kg/m2 und mehr – sprich Adipositas. Und laut der Fachzeitschrift „Lancet“ sieht die globale Entwicklung düster aus: Britische Forscher sammelten über 25 Jahre Daten von rund neun Millionen Menschen aus knapp 200 Ländern. Sie fanden im Schnitt eine Zunahme des BMI um 0,4 kg/m2 bei Frauen und 0,4 kg/m2 bei Männern. Gut schnitten die Länder Westeuropas ab, eines der Schlusslichter unter den Industrienationen waren die USA.
Übergewicht schadet dem Frauenhirn
Der Speck um die Rippen bleibt nicht ohne Folgen - Nicht zu Unrecht gilt das Fettgewebe als das größte endokrine Organ des Menschen. Es schüttet zahlreiche biologisch hoch aktive Stoffe aus und ist für etliche Krankheiten verantwortlich. In der Vergangenheit wurden vor allem kardiovaskuläre Risiken und Stoffwechselstörungen bis hin zum metabolischen Syndrom untersucht. Doch zu viele Pfunde auf den Rippen ziehen auch Gehirnstrukturen in Mitleidenschaft, wie Forscher des Max Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig berichten. Sie entdeckten bei Adipositas-Patienten beiderlei Geschlechts, dass Fortsätze von Nervenzellen in der grauen Substanz abgebaut werden. Speziell im weiblichen Gehirn ließen sich Schäden am Isolationsmaterial Myelin nachweisen, und zwar proportional zum Körpergewicht. Die Befunde seien als Anzeichen einer Gehirnalterung zu bewerten, betonten die Autoren der Publikation.
Das wiederum deckt sich mit einer epidemiologischen Studie aus Schweden: Forscher des Karolinska Instituts werten Daten von über 8.500 Zwillingen aus. Das Durchschnittsalter der Probanden lag bei 75 Jahren, wobei auf Informationen der letzten 30 Jahre zurückgegriffen werden konnte. Bei Teilnehmern, die bereits unter Demenz litten, fanden die Kollegen signifikant häufiger Übergewicht im mittleren Lebensalter. Unter der Annahme eines direkten Zusammenhangs errechneten sie ein 3,9-mal höheres Demenzrisiko für Übergewicht speziell in der Lebensmitte.
Damit nicht genug: Auch Frauen im gebärfähigen Alter sind betroffen. Epidemiologen nahmen dazu 96 Studien aus Australien, Deutschland, Großbritannien, aus Kanada und aus den USA unter die Lupe. Man höre und staune: Von allen identifizierten Risikofaktoren für eine Totgeburt nach der 22. Schwangerschaftswoche steht Adipositas sogar noch vor dem Tabakkonsum oder dem Lebensalter der Mutter an erster Stelle.
Resistenz gegen das Sättigungsgefühl
Doch warum reagiert der menschliche Körper so unterschiedlich auf das Angebot von Nahrungsmitteln? Diese Frage beschäftigte Forscher über Jahre. Schließlich entdeckten Sie das Eiweiß Leptin, es stoppt nach einem reichen Mahl den Hunger. Hergestellt wird dieser Botenstoff größtenteils in weißen Fettzellen des Bindegwebes. Die passenden Andockstellen konnten Wissenschaftler im Gehirn finden, und zwar speziell im Hypothalamus. Als Appetitzügler eignete sich das Molekül dennoch nicht – gerade bei Patienten mit Adipositas konnten hohe Leptinspiegel nachgewiesen werden. Grund ist eine Resistenz gegen den Signalstoff. Diese Erkenntnis eröffnet dennoch neue Ansätze für Therapien: Österreichischen Forschern gelang es, im Tierversuch die Entstehung von weißen Fettzellen zu unterbinden und damit der Leptinsynthese den Hahn abzudrehen. Sie schalteten ein Gen mit dem Namen Hedgehog an, indem ein Hemmstoff gentechnisch entfernt wurde. Ungebremst konnte das Gen nun seine Arbeit leisten – heranwachsende Mäuse blieben schlank, gesund und entwickelten kaum weißes Fettgewebe. Braune Fettzellen, sie produzieren Körperwärme, waren hingegen nicht betroffen. Doch bis Patienten von dieser Erkenntnis profitieren, kann es noch dauern.
Deshalb sind andere Strategien gefragt. Um eine Änderung des eigenen Lebensstils werden stark Übergewichtige kaum herum kommen – mehr Sport, eine andere Ernährung und regelmäßige internistische Kontrollen gehören mit dazu. Diäten bringen selten den gewünschten Erfolg, wie Kollegen im Rahmen einer Metaanalyse von 17 Studien zeigen konnten. Anfangs purzelten zwar die Pfunde – zwischen 4 und 28 Kilogramm speckten die Probanden ab. Doch nach fünf Jahren hatten fünf von sechs Patienten mindestens ihr altes Gewicht wieder erreicht. Hier kann ein Selbstmonitoring helfen, wie die amerikanische Weight Loss Maintenance Collaboration Group zeigen konnte. Sie gab 1.032 Patienten, die im Rahmen von Diäten abgespeckt hatten, verschiedene Hilfestellungen an die Hand, um ihre Lebensgewohnheiten zu verändern. Am wenigsten hatten Probanden unter persönlicher Beratung zugenommen. Dennoch reicht auch diese Strategie bei schweren Fällen nicht aus.
Skalpell effektiver als Diäten?
Chirurgische Verfahren sind da schon weitaus effizienter, aber auch riskanter. Ihnen gemeinsam ist, dass aufgenommene Nahrung nach der OP schlechter resorbiert wird. Ab einem BMI von 35 bis 40 hilft etwa der Magenbypass. Mehrere Arbeiten haben den Erfolg des Eingriffs unter Beweis gestellt – Patienten verloren rund 32 Prozent ihres Gewichts. Schnüren Chirurgen hingegen den oberen Teil des Verdauungsorgans mit einem Band ab, verlieren die Patienten immer noch etwa 20 Prozent ihrer Pfunde. Ähnlich gute Ergebnisse liefert die Verkleinerung des Verdauungsorgans zum so genannten Schlauchmagen.
Der Erfolg entsprechender Eingriffe kann auf den ersten Blick beeindrucken. In einer auf 20 Jahre angelegten Studie beobachteten schwedische Forscher Adipositas-Patienten nach dem Eingriff: Schlaganfall- und Herzinfarktrisiken sanken um 30 Prozent, und eine behandlungspflichtige Insulinresistenz verschwand bei 70 Prozent der Studienteilnehmer. Sieben Jahre nach der OP verringerte sich die kardiovaskuläre Mortalität um 40 Prozent im Vergleich zur nicht operierten Kontrollgruppe. Dennoch gelten die Eingriffe als riskant. Eine bereits 2009 veröffentlichte Untersuchung berichtet in 4,3 Prozent der Fälle von Komplikationen und beziffert das OP-bedingte Sterberisiko auf 0,3 Prozent. Zusätzlich bestehen berechtigte Anhaltspunkte für eine generell erhöhte Mortalität als Folge der chirurgischen Intervention.
Da hilft in der Praxis nur eine lebenslange Nachsorge durch interdisziplinäre Teams. Aufgrund der veränderten Stoffwechsellage müssen Kollegen die antidiabetische Therapie engmaschig anpassen. Und die Patienten sind auf regelmäßige Supplementierung mit Spurenelementen, Vitaminen und Proteinen angewiesen. Aufhorchen lassen außerdem mehrere Untersuchungen, die ein Suizidrisiko von sechs bis sieben Prozent ermittelten – fast 60 Prozent mehr, als statistisch zu erwarten gewesen wäre. Psychiater mahnen deshalb zur Wachsamkeit.
Warten auf die Wunderpille
Angesichts der Schwere operativer Eingriffe verwundert es nicht, dass Kollegen und Patienten schon immer mit der Pharmakotherapie liebäugelten – und bis dato bitter enttäuscht wurden: Die Appetitzügler Rimonabant und Sibutramin wurden wegen schwerer Nebenwirkungen aus dem Verkehr gezogen. Lediglich Orlistat ist momentan erhältlich. Wie lange noch, mag sich mancher Pharmazeut fragen: Im Rahmen einer Beobachtungsstudie fanden Kollegen aus Kanada bei zwei Prozent der Patienten Nierenprobleme im Vergleich zu 0,5 Prozent ohne Orlistat. Und die US-Arzneimittelbehörde FDA ergänzte Beipackzettel um den Hinweis auf seltene, aber schwere Leberschäden.
Neue Forschungsarbeiten konzentrieren sich vor allem auf das Eiweiß SGLT-2 (Sodium dependent Glucose transport 2). Es ist im Körper für die Rückgewinnung von Glucose und Natrium aus dem Primärharn verantwortlich. Ein Defekt dieses Systems führt zur Ausscheidung großer Mengen des Zuckers. Mit Hemmstoffen soll dies nachgeahmt werden: Dapagliflozin, der viel versprechendste Kandidat, ist mittlerweile in einer Phase III-Studie mit 10.000 Probanden angelangt – Experten rechnen mit einer Zulassung vielleicht schon Anfang 2012.