Eine Entzündung des Zahnfleischs ruiniert auf Dauer nicht nur die Zähne. Die freigesetzten Bakterien stahlen auch auf viele andere Regionen des Körpers aus. In Zürich versucht eine junge Arbeitsgruppe, das Entzündungsgeschehen in der Kulturschale nachzuvollziehen.
In einigen Gebieten unserer Welt leiden über 90 Prozent der Bevölkerung an einer Entzündung des Zahnhalteapparats. Auch im Mund von Patienten aus Industriestaaten findet sich bei mehr als jedem Zehnten eine fortgeschrittene Parodontitis. Selbst mit intensivem Putzen und Antibiotika lässt sich das Gemisch aggressiver Bakterien dann nicht mehr aus den entsprechenden Höhlen rund um den Zahn vertreiben.
„Parodontitis ist ein weit verbreitetes Gesundheitsproblem mit Auswirkungen auf die Gesundheit des ganzen Menschen. Gleichzeitig ist noch unbekannt, wie die Entzündung genau abläuft und warum manche Menschen eine schwere Parodontitis entwickeln und andere nicht.“ Nagihan Bostanci forscht seit mehr als zehn Jahren auf diesem Gebiet. Seit einem knappen Jahr leitet sie an der Universität Zürich eine Arbeitsgruppe, die sich ein besseres Bild von den Geschehnissen um den Zahn herum machen will. Dazu hat sie ein In-vitro-Modell von bakteriellen Biofilmen etabliert. Es soll den Forschern Erklärungen auf molekularer Ebene liefern, was beim Aufeinandertreffen von pathogenen Bakterien und Parodontalgewebe passiert. Enge Nachbarschaft mit gemeinsamer Waffenproduktion
Wenn sich Bakterien - nicht selten auch unterschiedliche Arten - zu solchen Biofilmen zusammenschließen, verschaffen sie sich einen wesentlichen Evolutionsvorteil. Denn nur ganz wenige Enzyme schaffen es, den stabilen extrazelluläre Schutzschirm aus Polysacchariden zu spalten. Daher ist es kein Wunder, dass nach Expertenschätzungen bei rund 60-70 Prozent aller Infekte solchen Biofilme vorkommen. Die enge Nachbarschaft der Zellen des gemeinsamen bakteriellen Stoßtrupps beeinflusst auch die Expression entsprechender Proteine. Pseudomonas aeruginosa startet zelleigene Membran-Pumpen, die beispielsweise Antibiotika wirkungsvoll wieder aus dem Inneren herausschaffen. Glukosyltransferasen von Streptococcus mutans ermöglichen die Synthese langkettiger unlöslicher Zucker aus niedermolekularen Einheiten. Sie helfen sowohl bei der Haftung an den Zahn, dienen aber auch als Nahrungsvorrat für zuckerarme Zeiten. Subgingivale Biofilme igeln sich damit fast unüberwindlich ein und starten von da aus ihre Angriffsaktion in das Gewebeinnere.
Chronische Entzündungsreaktionen im Körper und im Mundraum ähneln sich. Viele Merkmale einer Parodontitis finden sich auch bei Morbus Crohn, einer Polyarthritis, bei Blasenentzündungen oder auch bei Diabetes.
Parodontitis, Diabetes und Herzkrankheit
Zwischen Zuckerkrankheit und Zahnhalteapparat-Entzündungen gibt es signifikante Verbindungen: Diabetiker - besonders solche, die schlecht eingestellt sind - erleiden viel häufiger eine Parodontitis, die dann meist noch aggressiver ist. Schlechtere Reaktionen auf eine Therapie und Schwächen in der Immunabwehr verringern die Chancen auf eine schnelle wirkungsvolle Heilung. Longitudinalstudien haben aber auch gezeigt, dass Parodontitis selbst zu einer Erhöhung des Blutzuckerspiegels führen kann und damit einen vielleicht bestehenden Diabetes verschlimmert. Je stärker die Entzündung im Mundraum, desto eher haben die Bakterien eine Chance, ins Blut zu gelangen und dort entsprechenden Schaden anzurichten. Die produzierten Botenstoffe verringern die Empfindlichkeit der Insulinrezeptoren und lassen den Blutzuckerspiegel ansteigen.
Metastudien haben auch eine Verbindung von Parodontitis zu kardiovaskulären Krankheiten gezeigt. Eine effektive Behandlung verbessert die Endothelfunktion und senkt damit das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall. Wer nicht auf sein Körpergewicht achtet, tut auch seinen Zähnen nichts gutes. Auch Adipositas ist mit Entzündungen am Zahn assoziiert. Ein höherer BMI bedeutet in vielen Fällen auch mehr Parodontitis-Herde im Mund. Wahrscheinlich spielen bei diesen Prozessen Adipokine eine Rolle. Diese Botenstoffe aus dem Fettgewebe verstärken Entzündungsprozesse. Auch in der Sulkusflüssigkeit und der Gingiva sind diese Mediatoren zu finden. Biofilm und Zahnfleisch in der Petrischale
Von den rund 700 Bakterienarten, die sich im menschlichen Mund tummeln, suchte sich Bostanci die 10 wichtigsten heraus und züchtete sie im Labor als Biofilm an. Vorbild waren dabei die Arbeiten einer amerikanischen Gruppe, die bereits vor zwei Jahren ähnliche Versuche unternommen hat. Eine Publikation der Forscherin, die vor einigen Monaten in „Cellular Immunology“ erschien, beschreibt etwa die erhöhte Produktion der Botenstoffs Interleukin 1ß und IL-18, wenn Fibroblasten des Zahnfleischs mit dem Kulturüberstand des Biofilms zusammenkommen. Je nachdem, ob es sich dabei um einen supragingivalen oder subgingivalen Biofilm handelt, aktivieren die Fibroblasten dabei unterschiedliche Gene.
Die erhöhte Produktion von Caspasen deutet auf die aggressive Strategie der Erreger hin. Diese proteinspaltenden Enzyme spielen beim programmierten Selbstmord von Zellen eine wichtige Rolle. Für eine Steigerung der Knochenresorption am Kiefer ist auch „RANKL“ und sein Gegenspieler OPG verantwortlich. RANKL ist ein Ligand des Transkriptionsfaktors NFkB und triggert die Entwicklung von Osteoklasten, knochenabbauenden Zellen. Osteoprotegerin (OPG) blockiert dagegen diesen Liganden.
Wie DocCheck im Gespräch mit Bostanci erfuhr, sollen spannende Ergebnisse dieses Forschungsprojekts in den nächsten Monaten in den Fachzeitschriften erscheinen. Die Daten könnten auch Aufschluss darüber geben, auf welche Art zukünftige Wirkstoffe die Strategie bakterieller Biofilme durchkreuzen können. Möglicherweise auch bei anderen hartnäckigen Infekten jenseits der Mundhöhle.