„Koks für Kinder“ so warnte bereits vor einiger Zeit die Zeitschrift Focus vor dem Missbrauch von Methylphenidat. In Amerika ist das Kinderkoks bereits ein großer Hit. Auch Erwachsene haben das Amphetaminderivat für sich entdeckt - zur kognitiven Leistungssteigerung.
Der Techniker Krankenkasse zufolge stieg die Zahl der 6- bis 18-Jährigen, die auf Rezept Präparate mit Methylphenidat erhalten, von 2006 bis 2009 um 32 Prozent. Der Hersteller eines der Pharmaka gibt an, dass ADHS bei der Hälfte der Patienten über das 18. Lebensjahr hinaus fort besteht. Das wären 250 000 Betroffene in Deutschland. „Bei 40 - 80 % der Kinder mit der Diagnose ADHS ist eine Persistenz ihrer Störung ins Adoleszenzalter festzustellen“, so die Bundesärztekammer. In der Milwaukee-Studie zeigte sich, dass die hyperkinetische Gruppe bis ins Erwachsenenalter vermehrt illegalen Drogenbesitz und drogenbezogene Probleme aufwies.
Von einer 500 Jugendliche und Erwachsene umfassenden nordamerikanischen Kohortenstudie gaben 14% an, Methylphenidat bereits missbräuchlich eingenommen zu haben. Meist wurde die nasale Applikation bevorzugt. 40 Prozent dieser Patienten konsumierten ebenfalls andere Rauschmittel wie Kokain und Methamphetamin. In einer Studie von Musser et al. gaben 16 Prozent von 161 amerikanischen Schülern mit ADHS-Langzeitbehandlung an, dass ihnen ein illegaler Handel mit Methylphenidat angeboten worden sei. Der Missbrauch ist zwar in den USA verbreiteter als in Europa, aber auch hier wächst das Problem. Dem Schweizer Toxikologischen Informationszentrum (STIZ) sind in dem Zeitraum 1996 bis August 2009 Einhundertzwölf Missbrauchsfälle von Methylphenidat (Selbstmordversuche nicht eingeschlossen) gemeldet worden. „Der Missbrauch scheint vor allem Jugendliche und Erwachsene zu betreffen, die auch andere Substanzen konsumieren“, warnen die Schweizer Toxikologen. Die Arzneimittelbehörde Swissmedic wurde auf die Zunahme des Vertriebes von Großpackungen mit 200 Tabletten aufmerksam gemacht, da bei einer Analyse bei Pharmagroßhändler eine markante Zunahme entdeckt wurde.
Schniefen, spritzen, schlucken
Methylphenidat wird rasch und vollständig resorbiert und verteilt sich im Blut zu 57 % auf das Plasma, zu 43 % auf die Erythrozyten. Die Bindung an Plasmaproteine ist mit 10-33 % relativ gering. Die Wirkdauer beträgt etwa 1-4 Stunden. Das Pharmakon ist ein indirektes Sympathomimetikum mit zentral stimmulierender Wirkung und agiert als Dopaminwiederaufnahmehemmer. Auch auf Noradrenalin und Serotonin ist ein Einfluss feststellbar. Hauptangriffspunkt ist das „Belohnungssystem“ im Striatum und im Nucleus accumbens. Zur Verwendung als Rauschdroge werden Tabletten zumeist oral eingenommen oder auch pulverisiert durch die Nase geschnieft. Einige Abhängige lösen die Tabletten in Wasser auf und spritzen sie sich. Normalerweise entstehen Schwierigkeiten durch die unlöslichen Füllmittel der Tablette. Diese Füllmittel verstopfen kleine Blutgefäße und verursachen ernsthafte Schäden in der Lunge und der Augennetzhaut.
Bei intravenöser Applikation wird der Transportmechanismus des Neurotransmitters Dopamin blockiert, wodurch die Dopaminkonzentration im Gehirn ansteigt. Auch bei oraler Einnahme wird der Transportmechanismus bis zu 75 Prozent blockiert. Nach der intravenösen Applikation steigt die Dopaminkonzentration innerhalb weniger Minuten, bei oraler Einnahme dauert es circa 1 Stunde, bis die volle Wirkung erreicht ist.
Yong Kim und Mitarbeiter von der Rockefeller Universität in New York kamen in einer tierexperimentellen Studie zu dem Ergebnis, dass Methylphenidat im Gehirn ähnliche Veränderungen im Belohnungssystem hervorruft wie Kokain. Im Suchtbericht Deutschland wird „Psychostimulanzien“ wie Methylphenidat, die eine Veränderung der Verarbeitungsprozesse im Zentralnervensystem bewirken, bescheinigt, bei oraler Einnahme „keine körperliche, jedoch eine ausgeprägte psychische Abhängigkeit zu verursachen“. „Schon nach kurzdauernder Einnahme können psychotische Zustände mit vor allem optischen Halluzinationen und wahnhaftem Erleben auftauchen“.
Die Eltern merken es zuerst
Folgende Aspekte sind Indizien für einen Amphetaminmissbrauch:
Oft weisen die Konsumenten starke Persönlichkeitsveränderungen auf. An körperlichen Symptomen treten Tremor, Kopfschmerzen, Durchfälle und Tachykardien auf. Antizappelpillen nur noch vom Fachmann
Im Dezember 2010 ist ein Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Stimulantien bei Kindern und Jugendlichen in Kraft getreten. Darin wird die Richtlinie zur Verordnung von Stimulantien wie Methylphenidat bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS aufgrund möglicher Risiken dieser Arzneimittel weiterhin streng gefasst. Die Diagnose soll leitliniengemäß gestellt werden. Die Amphetaminderivate dürfen nur von einem Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen verordnet und unter dessen Aufsicht angewendet werden. Dazu gehören Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin, für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie, für Nervenheilkunde, für Neurologie und/oder Psychiatrie oder für Psychiatrie und Psychotherapie sowie ärztliche Psychotherapeuten mit einer Zusatzqualifikation zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen nach § 5 Abs. 4 der Psychotherapie-Vereinbarungen. Das zentrale ADHS-Netz begrüßt diesen Beschluss, da Unklarheiten beseitigt werden und eine Harmonisierung der Fachinformationen gesehen wird.
Um die Diskussionen zu diesem Beitrag nicht in die falsche Richtung zu lenken ist klarzustellen, dass Methylphenidat ein vermutlich sinnvolles Medikament ist, wenn es bei Kindern und Erwachsenen indikationsgerecht oral angewendet wird. Auch wird betont, dass der Missbrauch unter den Erkrankten in Deutschland eher eine Ausnahme ist. Die Gefahr der Suchtauslösung bezieht sich (besonders) auf die missbräuchliche Anwendung bei Gesunden und/oder der nasalen und intravenösen Applikation. Die Dosis macht das Gift zum (Rausch)Gift.