Ein pflanzlicher Naturstoff stand Pate für die Entwicklung einer neuen Wirkstoffklasse, die eine antivaskuläre und zytostatische Wirkung besitzt. Sie könnte der medikamentösen Krebstherapie einen neuen Schub verleihen.
Moderne Therapeutika, die Krebszellen zielgenau angreifen, werden seit einigen Jahren in der klinischen Routine immer häufiger eingesetzt. Doch vor allem bei fortgeschrittenen Tumoren zeigen auch diese Substanzen meist nach kurzer Zeit keine Wirkung mehr. Aufgrund der Wandlungsfähigkeit und genetischen Heterogenität der Krebszellen entstehen oft sehr schnell Resistenzen gegen die Medikamente. „Die mit ihnen erzielten Verlängerung der Lebenszeit bei Krebspatienten ist fast immer gering“, sagt Professor Matthias Ocker, Direktor des Instituts für Chirurgische Forschung an der Universität Marburg. „Wir benötigen daher in Zukunft weitere, noch wirksamere Krebsmittel."
Vielleicht könnte sein Wunsch bald in Erfüllung gehen, denn ein Forscherteam der Universität Bayreuth und der Universität Halle-Wittenberg hat eine neue Wirkstoffklasse entwickelt, die offenbar geeignet ist, die medikamentöse Behandlung von besonders resistenten Tumorarten erfolgreicher zu gestalten. Wie die Wissenschaftler um Professor Rainer Schobert kürzlich auf der Technologiemesse BioVaria in München bekannt gaben, basiert diese Wirkstoffgruppe auf Combretastatin-A4 (CA4) – einer natürlichen Substanz, die in der Rinde der südafrikanischen Buschweide vorkommt.
Naturstoff verschont einzelne Krebszellen
Seit längerem ist bekannt, dass der Naturstoff die Blutgefäße in Tumoren spezifisch angreift und allmählich zerstört, während alle anderen Blutgefäße im Körper von dieser antivaskulären Wirkung verschont bleiben. „In einem Tumor sind Gefäße wesentlich irregulärer aufgebaut als normale Blutgefäße“, sagt Schobert, der am Bayreuther Zentrum für Molekulare Biowissenschaften die Forschungsgruppe für Organische Chemie leitet. Da Combretastatin-A4 alleine Tumorzellen nicht vollständig zerstört, eignet es sich nur in Kombination mit anderen Arzneimitteln für die Krebstherapie. Um diesen Mängel zu beheben, synthetisierten Schobert und seine Mitarbeiter in Anlehnung an die Struktur von Combretastatin-A4 neue Moleküle, die neben der antivaskulären Wirkung auch zytotoxische Eigenschaften aufweisen sollten.
Die Forscher überprüften in verschiedenen Experimenten, ob die neu entwickelten CA-Analoga tatsächlich Krebszellen vernichten konnten. Zuerst behandelten sie Zelllinien mehrerer Krebsarten mit unterschiedlichen CA4-Analoga. Einige Vertreter der neuen Wirkstoffklasse zeigten selbst bei Zellarten, die gegen Combretastatin-A4 oder andere Standard-Chemotherapeutika resistent sind, einen ausgeprägten zytotoxischen Effekt. Das Team um Schobert gelang auch der Nachweis, auf welchem molekularen Mechanismus die Wirkung der CA4-Analoga beruht: „Sie zerstören die Krebszellen, indem sie den programmierten Zelltod auslösen“, sagt Schobert. Während der Versuche konnten er und sein Team keine Restistenzbildung gegen die Substanzen beobachten. Schobert: „Falls unsere CA4-Analoga ihre Wirkung verlieren sollten, dann geschieht das wahrscheinlich über deutlich längere Zeiträume als bei anderen Chemotherapeutika.“
Selektive Wirkung durch Feinabstimmung
Als die Forscher mit Hilfe von Hühnerembryos die verschiedenen CA4-Analoga auf ihre antivaskuläre Eigenschaften untersuchten, fiel ihnen auf, dass manche Moleküle das Gefäßsystem der Embryos innerhalb weniger Tage zerstörte, andere jedoch nicht. „Die Struktur der CA4-Analoga lässt sich leicht verändern“, sagt Schobert. „So kann man die beiden Effekte der Antivaskularität und Zytotoxität aufeinander abstimmen und für jede Krebsart eine maximale Wirkung erreichen.“
Schließlich wurden die CA4-Analoga im Tiermodell getestet: Für diese Versuche verwendeten die Forscher speziell gezüchtete Mäuse, denen der Thymus fehlt, und die deshalb keine Abstoßungsreaktionen gegen fremdes Zellmaterial zeigen. Den Tieren injizierten sie unter die Haut humane Krebszellen, die resistent gegen die gebräuchlichen Chemotherapeutika sind. Nachdem die Tumoren vier Wochen herangewachsen waren, bekamen die Mäuse ein- oder zweimalig die neuen Wirkstoffe verabreicht.
„Die Tumoren verfärbten sich in den folgenden 24 Stunden wie bei einem Hämatom“, berichtet Dr. Thomas Müller, Leiter der Arbeitsgruppe Experimentelle Onkologie an der Universitätsklinik für Innere Medizin IV in Halle. Für ihn war das ein deutlicher Hinweis, dass die Substanzen das Gefäßsystem der Tumoren massiv beschädigt hatten. In den Tagen danach nahm das Volumen der Tumoren deutlich und stetig ab. Im Falle eines erneuten Wachstums, wurde der Tumor nochmals mit den CA4-Analoga behandelt. Interessanterweise konnte die Anwendung mehrfach mit Erfolg wiederholt werden. Müller hält deswegen eine schnelle Resistenzbildung für unwahrscheinlich. Außer einem vorübergehenden geringen Verlust an Körpergewicht konnte der Forscher keine weiteren Nebenwirkungen beobachten.
Für orale Anwendung geeignet
CA4-Analoga sind dem zugrunde liegenden Naturstoff in weiteren Punkten überlegen: Sie sind gut in Wasser und im Serum löslich. Zudem verfügen die Moleküle über eine hohe chemische Stabilität. Schobert und Müller gehen davon aus, dass künftige Medikamente auf Basis der neuen CA4-Analoga auch oral verabreicht werden können. Trotz aller Euphorie aufgrund der durchweg positiven Ergebnisse, warnen beide Wissenschaftler dennoch vor überzogenen Erwartungen: „Wir stehen noch am Anfang. Erst wenn weitere präklinische Studien erfolgreich verlaufen sind, könnten unsere CA4-Analoga frühestens im nächsten Jahr im Rahmen einer Phase-I-Studie am Menschen getestet werden.“