Steigende Lebenserwartung und Innovationen in der Medizin: Die Kostenspirale dreht sich nach oben. Doch vor einer Debatte um Priorisierung oder Rationierung scheuen sich die meisten Politiker. Wie lange sich die Augen noch verschließen lassen, ist fraglich.
Die Zukunft der Gesundheitsversorgung sieht düster aus. Momentan finanzieren laut Professor Dr. Fritz Beske, Leiter des gleichnamigen Instituts für Gesundheits-System-Forschung, drei Erwerbstätige einen Rentner. Bis 2050 werde nur noch ein Beitragszahler auf eine Person, die nicht mehr arbeite, kommen. Auch der medizinische und pharmazeutische Fortschritt, teure Geräte und kostenintensive Pharmaka, verschlimmern die Situation. Doch viele Gesundheitsökonomen scheuen Debatten über die Verteilung von Leistungen – ein nicht ganz ehrlicher Ansatz. Durch den immensen Sparzwang seien laut Professor Dr. Stefan Huster von der Ruhr Uni Bochum implizite Rationierungen bereits Gang und Gäbe, etwa über Rabattverträge mit den Kassen, Festbeträge oder immer mehr ambulante OPs und weniger Krankenhausbetten. Allein die Verantwortung landet bei Kollegen, die am Ende des Quartals eine teure Therapie eben nicht mehr durchführen können oder Patienten auf OP-Wartelisten parken. Laut Huster verletze dies fundamentale Rechtsnormen, sprich das im Grundgesetz verankerte Gleichheitsgebot.
Polemik oder Problemlösung?
Rein theoretisch könnte der Staat Defizite auch regelmäßig durch einen tiefen Griff in den Steuersäckel ausgleichen. Doch die Einnahmen sind dafür zu mager, und was für die Gesundheit ausgegeben wird, fehlt andernorts. Alternativ käme eine Neuverschuldung in Frage, schwierig angesichts der verordneten Schuldenbremse.
Aus diesem Dilemma sieht Fritz Beske nur zwei Auswege: Priorisierung und explizite Rationierung. Politiker seien daher in der Pflicht, die Bundesärztekammer als federführende Institution für die Aufstellung von Prioritätenlisten in der medizinischen Versorgung zu benennen. Und auf dem Ärztetag in Kiel rührte deren scheidender Präsident Professor Dr. Jörg-Dietrich Hoppe nochmals die Werbetrommel für Ranglisten: „Bei begrenzten Ressourcen und steigender Morbidität ist die Diskussion um Priorisierung als Instrument der transparenten Verteilungsgerechtigkeit unabdingbar.“ Im Vorfeld beklagte auch er die heimliche Rationierung, welche bereits heute statt fände. Allein die Verantwortung hätten die Kollegen und Pflegekräfte in Klinik und Praxis.
Gesundheitsminister Daniel Bahr erteilte entsprechenden Appellen eine klare Absage. Sein Ziel sei, die Finanzierung des Gesundheitswesens so stabil zu gestalten, dass Rationierung oder Priorisierung unnötig würden. Rationalisieren möchte Bahr hingegen schon: Der Gesundheitsminister sprach sich für „eine Bedarfsplanung, die mehr Flexibilität und Freiheit gibt, um vor Ort die richtigen Entscheidungen zu treffen“ aus. Damit ist auch der Abbau von Bürokratie verbunden: Dokumentation sei, so Bahr, notwendig, dürfe aber nicht zum Selbstzweck verkommen. Vertreter der Krankenkassen stießen in das gleiche Horn. „Eine Forderung wird nicht dann richtig, wenn sie jahrelang wiederholt wird“, sagte Dr. Rolf-Ulrich Schlenker von der Barmer GEK zu Jörg-Dietrich Hoppes Ansinnen. Und die Priorisierung medizinischer Leistungen führe zu einer „unethischen Schacherei zu Lasten der Patientinnen und Patienten“. Florian Lenz vom GKV-Spitzenverband ergänzte, die Ärzte sollten Vorschläge für eine bessere Versorgung kranker Menschen machen, nicht ein Konzept, nach welchen Kriterien man sie verschlechtere.
Ringen um Leistungen
Parallel zur politischen Kontroverse arbeitet der Deutsche Ethikrat an einem Kriterienkatalog, der medizinische, juristische und ethische Aspekte beinhaltet. Ein erster Schritt: Seit Januar ist für neue Arzneimittel die Bewertung des Nutzens obligatorisch. Allein für Zwecke der Rationierung oder Priorisierung reicht das nicht aus. Möglichkeiten bestünden in Form einer zweiten Stufe mit patientenrelevanten Endpunkten, sei es der Verbesserung der Lebensqualität oder der Verringerung von Morbidität und Mortalität. Da sich das Prozedere an die etablierte Vorgehensweise bei der Zulassung neuer Arzneimittel anlehnt und die medizinische Grundversorgung an sich auch nicht in Frage stellt, sieht der Ethikrat auch keine großen Stolpersteine bei der Umsetzung. Und ein frühes Eingreifen scheint ratsam. Hat sich eine Innovation erst einmal auf dem Gesundheitsmarkt breit gemacht, ist deren Eliminierung mehr als schwierig. So zeigte eine Studie mit Brustkrebs-Patienten, dass eine Knochenmarktransplantation im Vergleich zu etablierten Verfahren keinen Vorteil bringt. Trotzdem wurden rund 30.000 Frauen behandelt, bis die Methode eingestellt wurde.
Laut Experten reicht eine Kosten-Nutzen-Analyse allein für die Einschränkung von Leistungen jedoch nicht aus. Bei Patienten mit ähnlicher Vorerkrankung und vergleichbarer Lebenserwartung stehe ansonsten die Frage im Mittelpunkt, welches Menschenleben für die Gesellschaft den größten Wert bringe, gibt Professor Dr. Weyma Lübbe vom Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Uni Regensburg zu bedenken. Erwerbstätige vor Arbeitslosen? Junge vor Alten? Eltern vor Kinderlosen? Erinnerungen an dunkle Zeiten werden unwillkürlich wach. Die Vergangenheit dürfe uns, so Lübbe, aber nicht davon abhalten, diese Debatte zu führen.
Stefan Huster bewertete auch ordnungspolitische Möglichkeiten. Dazu gehören Erkrankungen, die auf ein selbst verschuldetes Verhalten zurückzuführen sind, etwa Folgen des Rauchens, Unfälle durch Extremsportarten oder Leiden durch langjährige Ernährungssünden – laut Huster seien diese Kriterien moralisch bzw. praktisch nicht anwendbar. Besser eignen sich schon medizinische Fakten wie die Dringlichkeit des Eingriffs oder ein nachweislicher Erfolg durch Studien. Doch juristisch hieb- und stichfest sind auch diese Punkte nicht, wie das unter Juristen berühmt-berüchtigte „Nikolausurteil“ vom 6. Dezember 2005 zeigte: Fehlen bei einer lebensbedrohlichen Erkrankungen nämlich anerkannte Therapieverfahren, so das Bundesverfassungsgericht, muss auch eine ärztliche Behandlungsmethode mit nicht ganz entfernten Erfolgsaussichten übernommen werden.
…und wer soll das entscheiden?
Mit allen Fragen zur Verteilung von Leistungen des Gesundheitssystems muss sich ein demokratisch legitimiertes Gremium befassen. Entsprechende Aufgaben könne man „nicht an wissenschaftliche Institute, Verbände oder Interessengruppen“ delegieren, mahnte der Deutsche Ethikrat. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) sowie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) kämen damit zwar aufgrund ihrer fachlichen Kompetenz in Frage. Ihnen fehlt aber ein Mandat der Wählerschaft. Und der Gesetzgeber wiederum hat zwar die entsprechende Legitimation, aber nicht die erforderliche fachliche Kompetenz. Sollte es zu Rationierungen bzw. Priorisierungen kommen, wird die eine Instanz nicht ohne die andere auskommen.
Langfristig erwarten Gesundheitsökonomen, dass immer mehr Leistungen aus der regulären Versorgung verschwinden und den Trend zur Zweiklassenmedizin verstärken. Inwieweit der Staat Gelder zuschießt, ist offen. Husters Forderung: „Die gesetzliche Gesundheitsversorgung ist regelmäßig um diejenigen Leistungen aufzustocken, die der Durchschnittsbürger bereit ist zu versichern.“