Jetzt ist er da, der heiß ersehnte Referentenentwurf des Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung, besser bekannt als "Versorgungsgesetz". Apotheken kommen in dem Papier kaum vor, doch der Schein trügt. Viele Maßnahmen könnten die Entwicklung der nächsten Jahre prägen.
Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) hat ganze Arbeit geleistet: Von einer Verbesserung der ärztlichen Versorgung auf dem Land ist die Rede, von Honoraranreizen und von weniger Regress-Sorgen für Praxen. Für öffentliche Apotheken sind vor allem Änderungen in Richtung Rx-Arzneimittel interessant. Auch das OTC-Segment könnte schon bald eine neue Blüte erleben.
OTCs auf der Überholspur
Die gute Nachricht: Nach einer fast zwölfmonatigen Durststrecke legte der Umsatz rezeptfreier Arzneimittel im Mai um 5,3 Prozent zu, verglichen mit dem Vorjahresmonat. Jetzt kommt das Versorgungsgesetz mehr als gelegen: Krankenkassen dürfen vielleicht schon bald OTCs sowie Heil- und Hilfsmittel auf freiwilliger Basis in ihren Katalog aufnehmen. Einzige Bedingungen: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) darf entsprechende Leistungen nicht ausgeschlossen haben. Und Kassen müssen zudem offen legen, was sie in welchem Umfang und wie lange bereit stellen. Durch die Neuerung erhofft sich Daniel Bahr, den Wettbewerb der Versicherer zu intensivieren.
Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) lobt: Eine entsprechende Erstattung sei „therapeutisch und ökonomisch geboten“. Damit werde die „willkürliche Knüpfung der Erstattungsfähigkeit an die Verschreibungspflicht“ zumindest etwas revidiert. Ungeklärt bleibt die Frage des Honorars: 8,10 Euro minus Kassenabschlag wie bei Rx-Arzneimitteln? Oder doch wieder ein prozentualer Obolus wie zu früheren Zeiten?
Hingegen äußerten sich die Branchenriesen AOK, Barmer GEK und DAK ablehnend. „Eine solche Regelung wäre nur eine scheinbare Liberalisierung und würde einen unsinnigen Wettbewerb unter den Kassen auslösen – ohne die Qualität oder Sicherheit der Versorgung zu verbessern“, verlautbarte die DAK. Und Vertreter der privaten Krankenversicherung (PKV) sehen durch die möglichen Offerten der „Gesetzlichen“ sogar ihre eigenen, maßgeschneiderten Ergänzungsangebote in Gefahr. Dies sei ein „schwerwiegender Eingriff in einen funktionierenden Markt“, sagte ein PKV-Sprecher.
Mehrgleisige Arzneimittelversorgung
Doch nicht nur OTCs sind in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, auch die Versorgung mit Rx-Präparaten wollen Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände optimieren, und zwar am liebsten durch das Versorgungsgesetz. Zielgruppe sind multimorbide Patienten, die fünf oder mehr Wirkstoffe pro Tag einnehmen, immerhin 26 Prozent aller GKV-Versicherten. Diese müssen mit hohen Risiken arzneimittelbedingter Wechselwirkungen leben. Und gerade bei Chronikern ist es auch um die Therapietreue schlecht bestellt, zurzeit würden laut ABDA-Vize Friedemann Schmidt die Hälfte aller Arzneimittel nicht richtig angewendet.
Hier greift das neue Konzept: Im ersten Schritt führen Apotheker und Ärzte eine genaue Analyse der Verordnungen durch. Daraus lässt sich ein Arzneimittelplan mit optimierten Empfehlungen ableiten, natürlich in Absprache mit allen beteiligten Praxen. Ohne eine definierte Schnittstelle kann das nicht funktionieren. Und so ist eine Bedingung, dass sich Patienten für zumindest zwölf Monate an eine Praxis bzw. Apotheke binden. Als Entschädigung – und das ist der charmante Ansatz für alle Beteiligten – springen 180 Euro heraus. Kein Vermögen, aber zumindest ein Honorar für Leistungen, die bereits heute in weiten Teilen ohnehin schon geleistet werden. Parallel soll endlich auch die Wirkstoffverordnung in die Praxis umgesetzt werden: Das Kassenrezept listet dann nur noch Arzneistoffe inklusive Dosis und Therapiedauer, Apotheker wählen unter pharmazeutischen und ökonomischen Kriterien ein passendes Präparat aus. Und KBV-Vorstand Dr. Carl-Heinz Müller warb, das Procedere sichere Ärzten durch Umstellung der Richtgrößen auf Versorgungsziele, die in einem Medikationskatalog festgehalten würden, eine aktivere Rolle.
Trotz verlockender Aussichten auf Einsparungen in Höhe von 2,1 Milliarden Euro, die Honorare schon abgezogen, lehnte Daniel Bahr es ab, den Baustein sofort in das Versorgungsgesetz mit aufzunehmen. Er ist vom Nutzen noch nicht restlos überzeugt und wartet erst auf Ergebnisse aus einer Testregion. Nordrheins Apothekerkammer steht indes schon in den Startlöchern. Auch die dortige Kassenärztliche Vereinigung ist mit im Boot.
Ärzte übernehmen das Ruder
Das alles dauert einigen Leistungserbringern deutlich zu lange. So startete die AOK Rheinland / Hamburg Ende Juni zusammen mit der dortigen Kassenärztlichen Vereinigung ihren eigenen Testballon: Versicherte, die sich für einen Hausarztvertrag entscheiden, können gleich einen Arzneimittelcheck durchführen lassen, entsprechende Daten erhält die Praxis von der Kasse selbst. Der Arzt klärt auch mögliche Interaktionen mit Kollegen ab und optimiert im besten Falle die Liste der Präparate. Das ist auch dringend erforderlich: Vor allem in Großstädten gingen Patienten zu mehreren Medizinern – „und dies leider auch nicht immer abgestimmt mit uns Hausärzten“, sagte der Vize der KV-Vertreterversammlung, Dr. Stephan Hofmeister. Pharmazeuten bleiben außen vor – und zeigen sich verschnupft: „Ist dies nicht eine ureigene Aufgabe des Apothekers?“, moniert Peter Ditzel, Chefredakteur der Deutschen Apotheker Zeitung, in einem Kommentar. Er verweist auf Stammapotheken vieler Patienten, die entsprechende Aufgaben ebenfalls leisten könnten. Das Plus: Dort wären auch Daten aller OTCs und Nahrungsergänzungsmittel gespeichert – diese Informationen liegen dem Hausarzt per se eben nicht vor. Ditzel: „Warum treten wir Apotheker nicht stärker mit solchen Konzepten an die Kassen heran?“ Eine Frage, die angesichts des zumindest momentanen Scheiterns des ABDA-KBV-Modells durchaus ihre Berechtigung hat.
Justitia zu Gast in der Offizin
Das nächste heiße Eisen: Mit der Legalität von Rx-Boni beschäftigt sich die Justiz schon länger. Jetzt hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (OVG) einem Apotheker gestattet, Rabatt-Taler für Kassenrezepte abzugeben. Der Wert einer Münze: 50 Cent. Zwar folgten die Richter Empfehlungen der Niedersächsischen Apothekerkammer, sie hatte mit Verweis auf die Arzneimittelpreisverordnung einen jeglichen Kundenbonus bei Rezeptpflichtigem unterbunden. Dennoch stuften sie „geringwertige Kleinigkeiten“ als zulässig ein. Als Limit hatte der Bundesgerichtshof bereits im Herbst 2010 den Maximalwert von einem Euro veranschlagt. Dessen Gemeinsamer Senat prüft momentan, inwieweit das Urteil auch auf ausländische Versandapotheke angewendet werden kann.
Vertreter der Apothekerkammern und der ABDA sind damit nicht zufrieden. Sie sehen die höchstrichterliche Entscheidung nur für das Wettbewerbsrecht, nicht aber für das Berufsrecht, immerhin werde die Arzneipreisverordnung verletzt. Theoretisch könnten Kammern entsprechende Verstöße auch ahnden – praktisch bleibt die Frage offen, welches Gut schwerer wiegt: das grundgesetzlich verankerte Recht auf freie Ausübung des Berufs oder die mögliche Verzerrung des Wettbewerbs.
Rx-Rabatt für alle?
Jetzt wird die Forderung laut, Rx-Rabatte generell zu legalisieren. Der Hintergrund: Zusammen mit Kollegen gab Karl-Rudolf Mattenklotz, ehemals Kammerpräsidenten der Apothekerkammer Nordrhein, ein Gutachten in Auftrag. Das Resümee der beauftragten Juristen: Boni seien geldwerte Vorteile zu Lasten der Sozialversicherungen – und damit von allen Beteiligten, auch Versandapotheken anderer Staaten, offen zu legen. Mattenklotz formulierte kurzerhand einen Vorschlag, den er gern im Versorgungsgesetz sehen würd: Alle Rx-Rabatte über einem Euro seien, so heißt es, an die deutsche Krankenkasse des Versicherten abzuführen. Dazu gehören dann auch Treuepunkte oder Rabatt-Taler für Kunden.
Ulrike Flach (FDP), der zuständigen Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit, geht das entschieden zu schnell. Sie wolle erst die ausstehende Entscheidung des Gemeinsamen Senats abwarten. Würde Mattenklotz´ Idee dennoch Realität, so habe dies statt geltender Festpreise „logischerweise eine Höchstpreisverordnung zu Folge“, sagte Lutz Engelen, der Präsident der Apothekerkammer Nordrhein. Er sieht einen Wettbewerb kommen, der sich nur noch um den Preis drehen könnte, aber nicht mehr um Qualität und Wirksamkeit.
Notbremse gezogen
Trotz dieser zahlreichen Impulse bleibt die Zukunft des Versorgungsgesetzes momentan ungewiss, nachdem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) kürzlich die fehlende Gegenfinanzierung rügte. Seine Beamten prüfen zurzeit alle haushalterischen Aspekte – im Raum schwebt die Kritik, es gehe Bahr nur darum, mehr Geld in das System zu pumpen, der Bundesgesundheitsminister liefere „keine nachvollziehbaren Berechnungen“.
Sollte es dennoch am 3. August zu einem Kabinettsbeschluss kommen, befürchten Krankenkassen schon jetzt Mehrausgaben von geschätzten vier Milliarden Euro bis 2013, allein die Gelder für Landärzte schlagen mit 200 Millionen Euro zu Buche. Es bleibt abzuwarten, wie viele Versicherer dann überhaupt freiwillige Zusatzleistungen anbieten können – oder wieder mit der Einführung von Zusatzbeiträgen liebäugeln.