Dass Autismus vor allem auf Erbkomponenten zurückzuführen ist, scheint immer klarer zu werden. Aber macht man es sich da nicht etwas zu einfach? Eine aktuelle Zwillingsstudie weist der Genetik zwar eine Bedeutung zu, noch wichtiger jedoch könnten Umweltfaktoren sein.
Schätzungen zufolge leiden von 10.000 Kindern 40 an einer Erkrankung des autistischen Formenkreises. In den vergangenen Jahrzehnten ist eine Verzehnfachung der Prävalenz zu verzeichnen. Inwieweit die tatsächlichen Erkrankungszahlen zugenommen haben, wird anhand der Zahlen aber angesichts verbesserter Diagnosemöglichkeiten und der vermehrten Aufmerksamkeit für die Erkrankungen nicht deutlich. Erblichen Komponenten wird eine große Bedeutung zugemessen. So ergaben Studien an eineiigen Zwillingspaaren, dass das Risiko einer Erkrankung beider Zwillinge hoch ist und die Konkordanzraten bis zu 72 Prozent betragen. Bei zweieiigen Zwillingen waren die Konkordanzraten gering oder gingen gegen Null.
Umwelt als Auslöser entlarvt
Eine neue Rechnung macht nun eine Forschergruppe um Joachim Hallmayer der Stanford University in Kalifornien auf. Zugrunde liegt die Analyse von Daten aus der California Autism Twin Study mit einer Untersuchung von 192 Zwillingspaaren, von denen mindestens ein Kind die Diagnose einer autistischen Störung aufwies. Unter den 54 eineiigen Paaren ergab sich ein hohes Risiko für beide Kinder, an einer autistischen Störung zu erkranken, wobei sich die Konkordanz zwischen weiblichen und männlichen Paaren unterschied (Jungen 77 Prozent, Mädchen 50 Prozent).
Doch im Gegensatz zu früheren Untersuchungen zeigte sich auch bei zweieiigen Zwillingen eine relativ hohe Konkordanz: Bei 31 und 36 Prozent erkrankten beide Zwillinge männlicher und weiblicher Zwillingspaare, was den Verdacht nahelegt, dass die Vererbung bislang überschätzt wurde. Mittels parametrischer Modelle konnten die Forscher die Bedeutung von Umweltfaktoren und Erbkomponenten beziffern: Zu 58 Prozent machen sie gemeinsame Umweltfaktoren und zu 38 Prozent die Vererbung verantwortlich.
Faktorensuche: Tappen im Dunkel
Die Diagnosemethoden unterschieden sich bislang von Studie zu Studie und gegenwärtige Standards fanden häufig keine Anwendung. In der aktuellen Studie dagegen wurde Wert auf strukturierte klinische Untersuchungen gelegt. Bei dieser Studie spielten neben standardisierten Tests nicht nur die Elternbefragung eine Rolle, sondern auch die Beobachtungen der Kinder, was heutzutage für die Diagnose Standard ist.
Das Auftreten autistischer Störungen in der frühen Kindheit, offenkundige Symptome bestehen häufig schon am Ende des ersten Lebensjahres, lässt vermuten, dass einige Umweltfaktoren in der Prä- und Perinatalzeit verantwortlich sind. Bei der Untersuchung dieser Faktoren tappen Forscher aber bislang noch im Dunkeln. Das bestätigen auch die Ergebnisse einer aktuellen Metaanalyse von 40 Studien, die in der Fachzeitschrift Pediatrics online veröffentlicht wurde.
Demnach reicht die Evidenz nicht aus, um einen bestimmten der 60 in der Studie untersuchten neo- oder perinatalen Faktoren direkt mit der Autismusätiologie in Zusammenhang zu bringen. Doch ergaben sich Hinweise auf Verbindungen etwa mit einem geringem Geburtsgewicht, fetalem Distress während der Wehen und Zeichen einer schlechten Verfassung beim Neugeborenen wie Probleme bei der Atmung und Herzfrequenz.
Antidepressiva unter Verdacht
Zusammenhänge zwischen der mütterlichen Einnahme von Antidepressiva und autistischen Erkrankungen deckte möglicherweise auch eine in den Archives of General Psychiatrie veröffentlichte Fallkontrollstudie an krankenversicherten Müttern und deren Kinder auf. Die Behandlung mit Antidepressiva hat ja nicht nur allgemein, sondern auch bei schwangeren Frauen in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Verglichen wurden fast 300 Kinder mit autistischer Störung mit über 1.500 zufällig ausgewählten Kontrollen und deren Müttern.
Bei Einnahme von selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern der Mütter während des Jahres vor der Geburt ergab sich gegenüber der Vergleichsgruppe ein zweifach erhöhtes Risiko für autistische Störungen beim Nachwuchs. Behandlungen im ersten Trimester der Schwangerschaft erhöhten das Risiko fast vierfach. Ein erhöhtes Risiko aufgrund der Einnahme der Medikamente müsse natürlich gegen die Risiken für Mutter und Kind bei einer unbehandelten mentalen Erkrankung abgewogen werden, so die Autoren. Einen Beweis für einen Zusammenhang kann eine Fallkontrollstudie allerdings nicht liefern.