Paracetamol gehört zu den am meisten eingenommenen Arzneimitteln überhaupt. Neue Studien zur akuten und chronischen Toxizität lassen die Substanz in einem neuen, ungünstigen Licht erscheinen.
In der Anfragestatistik des Gemeinsamen Giftinformationszentrums der Länder Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen 2000 – 2009 belegt Paracetamol den unangefochtenen 1. Platz. Über 3.200 Anfragen bei Vergiftungen im Erwachsenenalter und über 1.500 im Kindesalter bezogen sich auf das Schmerzmittel. Im Vergleich dazu wurden lediglich etwa 1.400 Anfragen zu Diazepam gestellt.
Einige Experten fordern Rezeptpflicht oder Marktrücknahme
Die Einnahme einer Überdosis Paracetamol ist die häufigste Ursache für akutes Leberversagen in den USA und führt dort zu rund 450 Todesfällen pro Jahr. In Deutschland sterben pro Jahr 1-2 Menschen daran. Der Erlanger Pharmakologe Prof. Dr. Dr. Kay Brune kam zu dem Schluss, dass Paracetamol keineswegs so harmlos ist wie lange angenommen und warnte vor allem junge Frauen und Schwangere vor der Einnahme. Seine Forderung nach Marktrücknahme oder zumindest nach vollständiger Unterstellung unter die Verschreibungspflicht wird kontrovers diskutiert.
Der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK), Prof. Dr. Martin Schulz, verweist auf eine jüngst von der AMK und der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft herausgegebene Stellungnahme zu den Risiken von Paracetamol: Hier wird die Verschreibungspflicht von Packungen mit mehr als 10g Paracetamol begrüßt. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte teilte mit, dass die neuen Risikosignale zur Zeit unter Mitwirkung des BfArM von der Pharmakovigilanzarbeitsgruppe (PhVWP) des Ausschusses für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) bewertet werden. Sollten Maßnahmen zur Risikominimierung notwendig sein, würden diese auch in Deutschland umgesetzt werden.
Dosis bei der Verschreibung peinlich genau prüfen
Auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte warnt zur kritischen Einnahme von Paracetamol. Eltern sollten bei der Gabe von Paracetamol genau auf die Dosierungsanleitung für Kinder achten. Denn aufgrund des geringen Körpergewichts könne eine zu hohe Dosis des Standardmittels gegen Fieber und Schmerzen bei Kindern schnell zu lebensbedrohlichen Leberproblemen führen. Eine aktuelle Studie untersuchte dies genauer.
Die im „British Journal of Clinical Pharmacology“ veröffentlichte Studie bescheinigte den schottischen Allgemeinmedizinern geradezu ein schlampiges Vorgehen bei der Angabe der Dosierung von Paracetamol. Auf nahezu jedem vierten Paracetamol-Rezept war der Wirkstoff falsch dosiert. Kleinen Kindern wurden sehr häufig zu hohe Dosen verordnet. Bei Säuglingen im Alter zwischen einem und drei Monaten waren 27 Prozent überdosiert. Schulkindern erhielten in einem Viertel der Verschreibungen hingegen eine zu geringe Dosierung.
Schon vor der Geburt ein Risiko
Ganz unabhängig von der akuten Toxizität muss die Steigerung von Krankheitsprävalenzen bei der Einnahme von Schwangeren oder Kindern betrachtet werden. Zahlreiche Studien warnen davor, dass Paracetamol das Risiko für Asthma und Neurodermitis im Kindesalter steigern kann. Wissenschaftler der von „GA²LEN“ (Global Allergy and Asthma European Network“) durchgeführten Studie mahnen: Erwachsene, die mindestens einmal pro Woche Paracetamol einnehmen, haben eine dreifach höhere Wahrscheinlichkeit, Asthma zu bekommen. An mehr als 500 erwachsenen Asthmatikern und 500 gesunden Probanden untersuchten die Wissenschafter die Häufigkeit der Einnahme verschiedener Schmerzmittel. Dabei zeigte sich eine klare Korrelation zwischen der PCM-Einnahme und der gesteigerten Prävalenz von Asthma. Es wird spekuliert, dass der Abbauweg von Paracetamol dafür verantwortlich sein könne. Bei der Metabolisierung verbraucht Paracetamol das schwefelhaltige Peptid Glutathion. Es gehört zu den bedeutendsten Antioxidantien im Körper. Wird der Gehalt durch die Einnahme von PCM vermindert, fehlt der Lunge ein wichtiger Schutzfaktor gegen Umwelteinflüsse. Glutathion spielt auch bei einer PCM-Überdosierung eine Rolle. Ist der Vorrat des Peptids erschöpft, wird ein lebertoxischer Metabolit gebildet der zum Tode führen kann.
Seif Shaheen, einer der Autoren der GA²LEN-Untersuchung, hat in einer anderen Studie (British Avon Longitudinal Study of Parents and Children (ALSPAC)) die Daten von 14.000 Kindern, die seit ihrer Geburt beobachtet wurden, analysiert. Der Beobachtungszeitraum startete mit der Schwangerschaft und reichte bis zum achten Lebensjahr der Kinder. Das Risiko für ein kindliches Asthma war signifikant mit einer pränatalen Paracetamol-Einnahme verknüpft, wenn die Mutter eine genetische Variante des Antioxidans-Gens aufwies.
Beasly et al. führten eine Querschnittanalyse mit Hilfe von Fragebögen an über 205.000 Kindern im Alter von sechs bis sieben Jahren durch. Die Multivariantanalyse zog 31 Länder mit ein. Auch hier ergab sich ein klares Risikosignal für Paracetamol und Asthma. Kinder, die im ersten Lebensjahr Paracetamol einnahmen, hatten ein um 46 Prozent erhöhtes Risiko später an Asthma zu erkranken. Außerdem ging die Gabe von Paracetamol im ersten Lebensjahr mit einem um 48 Prozent erhöhten Rhinokonjunktivitis-Risiko und einem um 35 Prozent erhöhten Neurodermitisrisiko einher.
Hoden in Gefahr?
Der Schmerzexperte Prof. Hartmut Göbel, Chefarzt der Schmerzklinik Kiel, warnt ebenfalls ganz aktuell vor der Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft: „Bis zur Klärung des genauen Zusammenhanges muss der Grundsatz gelten: Im Zweifel für das ungeborene Leben und gegen die Einnahme von Paracetamol, insbesondere in Kombination mit anderen Schmerzmittel. Kurzer Nutzen und langfristige lebenslange Risiken stehen bei möglicher oder bestehender Schwangerschaft aufgrund der neuen Datenlage nicht mehr im ausgewogenen Verhältnis zueinander.“ Göbel sieht auch einen Zusammenhang vom gehäuftem Auftreten von Kryptorchismus. Wenn eine Schwangere PCM einnimmt, kann die Häufigkeit dieser Hodenlageanomalie ansteigen. Die Folge kann eine verminderte Spermienzahl, Zeugungsunfähigkeit und ein erhöhtes Auftreten von malignen Hodentumoren sein.
„Entgegen früheren Empfehlungen wird daher bei möglicher oder bestehender Schwangerschaft von der Einnahme von Paracetamol in Mono- und insbesondere Kombinationspräparaten abgeraten“, so der Mediziner. Die Datenlage erschwert erheblich die Schmerztherapie von Schwangeren. Ibuprofen und andere NSAR dürfen nicht nach der 28. Schwangerschaftswoche eingenommen werden. Lediglich für Paracetamol gilt diese Einschränkung nicht.
Nagt PCM am Knochen?
Nach einer in BONE von L- Williams et al. veröffentlichten Studie steigt unter Paracetamol die Frakturrate an. An 569 Frauen über 50 Jahre mit zurückliegenden Frakturen wurde retrospektiv die PCM-Einnahme hinterfragt. Parallel wurden 775 Probanden ohne Frakturen befragt. 12 Prozent der Betroffenen mit Brüchen hatten zuvor das Schmerzmittel eingenommen, jedoch lediglich acht Prozent der frakturfreien Frauen. Das relative Risiko war somit unter PCM um 56 Prozent erhöht. Unklar ist der Mechanismus der gesteigerten Frakturrate.
Vorsichtig auch während Impfungen
In Ländern wie Nordamerika und Australien ist es üblich, Kindern mit erhöhtem Risiko für Fieberkrämpfe vor und nach einer Impfung Paracetamol zu verabreichen. Paracetamol schwächt jedoch die Antikörperantwort ab und mindert die Schutzwirkung der Impfung. Die Werte der Antikörper-Konzentrationen (GMCs) waren in einer Studie von Prymula et al. in der Paracetamol-Gruppe signifikant niedriger als in der Kontrollgruppe. Besonders gilt dies für Pneumokokken, Haemophilus influenzae Typ B, Diphtherie, Tetanus-Toxoide sowie für Keuchhusten. Besonders bei der prophylaktischen Gabe vor der Impfung war die Abschwächung der Immunität feststellbar.
Wettlauf gegen die Uhr
Bei Erwachsenen reicht bei einer Dosis von mehr als 10 Gramm (20 Tabletten) Paracetamol der Entgiftungsmechanismus des Körpers nicht mehr aus. Bei Kindern ist die Dosis weitaus niedriger. Bei vorgeschädigter Leber, Einnahme weiterer hepatotoxischer Substanzen oder Pharmaka die über dasselbe Enzymsystem verstoffwechselt werden, muss ebenfalls mit niedrigeren Schwellendosen gerechnet werden. Besonders tückisch sind Vergiftungen mit Paracetamolkombipräparaten, etwa Erkältungsmitteln. Hervorzuheben ist hier ein „Erkältungssaft für die Nacht“. Das Mittel enthält neben Paracetamol Ethanol, Ephedrin und das Schlafmittel Doxylamin, das ebenfalls eine sehr geringe therapeutische Breite hat. Wird nicht rechtzeitig das Antidot Acetylcystein gegeben, entwickelt sich ein Coma hepaticum, das unbehandelt zum Tod führt.
Paracetamol wird über bestimmte Leberenzyme (Cytochrom P450) zum giftigen und leberschädigenden N-Acetyl-p-benzochinonimin (NAPQI) oxidiert. Dieser sehr reaktionsfähige Metabolit wird normalerweise sofort durch die körpereigene Aminosäure Glutathion abgefangen und über die Niere ausgeschieden. Glutathion steht jedoch nur in begrenztem Umfang in der Leber zur Verfügung; seine Nachbildung kann nicht genügend gesteigert werden. Daher erschöpft sich bei der akuten Überdosierung mit Paracetamol der Glutathion-Anteil. Das NAPQI reagiert nun mit Struktur- und Funktionsproteinen der Hepatozyten, was nach einer Zeit von 24-72 Stunden zur Leberzellnekrose und klinischem Leberversagen führen kann. Auch Ethanol verbraucht beim Abbau Glutathion, Vergiftungen mit Paracetamol UND Ethanol verlaufen deshalb besonders schwer.
Hustenmittel als Antidot
Glücklicherweise ist trotz der extremen Häufigkeit der Paracetamolvergiftung die Sterblichkeitsrate relativ gering. Der Grund hierfür ist, dass ein sehr effizientes Gegenmittel zur Verfügung steht. Voraussetzung für die Wirksamkeit ist die rechtzeitige intravenöse Gabe, die nicht später als 10 Stunden nach Intoxikation beginnen sollte. N-Acetylcystein (NAC) vermehrt den Glutathion-Gehalt und somit die Menge an SH-Gruppen in den Hepatozyten. Gleichzeitig übt das Antidot eine protektive Wirkung aus. Extrazellulär bindet es Toxine an sich und wirkt direkt gewebeschützend, intrazellulär führt es zu einer Bereitstellung von Cystein und schafft die Möglichkeit für eine Glutathionsynthese und wirkt somit indirekt zytoprotektiv. Als Gesamtwirkung kann der Schutz vor Leberzellnekrosen angesehen werden. In einer Studie mit 100 Patienten betrug die Letalitätsrate innerhalb von 10-36 Stunden nach Ingestion mit Antidot 37 Prozent und ohne Antidot 58 Prozent.
Theoretisch wäre auch die orale Gabe von NAC hilfreich, die im Vergleich als Hustenmittel extrem hohe Dosis von initial 150-300 mg/kg KG macht dies jedoch nicht realisierbar. Die Gesamtdosis beträgt in den ersten drei Behandlungstagen etwa 1440 mg/kg KG. Ein Erwachsener Patient mit 70 kg Körpergewicht erhält somit ca. 100 g. In der präklinischen Phase sollte bereits eine Giftadsorption mit Aktivkohle (1g kg/KG, beispielsweise Ultracarbon ®) erfolgen. Soweit vorhanden kann mit der Gabe des Antidotes N-Acetylcystein begonnen werden (300 mg/kg KG).
Bei sachgerechter Anwendung ist Paracetamol ein sicheres Schmerzmittel mit geringen akuten Nebenwirkungen. Zahlreiche Studien warnen jedoch davor, dass besonders bei Kindern die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Erkrankungen wie Neurodermitis oder Asthma bei regelmäßiger Anwendung steigt. Dies hat zwar keine rettungsdienstliche Relevanz, der Blick über den Tellerrand soll jedoch gestattet sein, weil der Wirkstoff weit verbreitet ist. Die hohe akute Toxizität hat die Abgaberichtlinien strenger gemacht.