Weit aus dem Fenster lehnte sich in diesem Jahr der Arzneimittelreport der Barmer-GEK. Herum gehackt wurde nicht nur auf Generika- und Biosimilar-Quoten. Auch Kontraindikationen sollen missachtet werden. Die Zahlen kann man allerdings so oder so lesen.
„Bedenkliche Trends stehen im Mittelpunkt des neuen BARMER-GEK-Reports.“ So beginnt die Pressemeldung, die die Krankenkasse BARMER-GEK anlässlich der Vorstellung ihres mittlerweile schon recht traditionsreichen Reports herausgegeben hat. Dass das von den Medien breit aufgegriffen würde, darauf konnten sich BARMER-GEK-Vorstand Dr. Rolf-Ulrich Schlenker und Gesundheitsökonom Professor Gerd Glaeske vom Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen so gut wie verlassen. Und so kam es. Wohl noch nie hat ein Arzneimittelreport der BARMER-GEK ein so breites Echo erfahren wie der Arzneimittelreport 2011. Noch Ende Juli fanden sich im Internet neue Einträge, die auf den Report Bezug nehmen. Und die Meldungen waren alle ähnlich: Deutschlands Ärzte verordnen ihren Patienten ständig gesundheitsgefährdende Pillen.
Schlagzeilenträchtiges Ärztemobbing
Konkret wird moniert, dass rund zwölf Prozent der alkoholabhängigen Männer und 18 Prozent der alkoholabhängigen Frauen in Deutschland Benzodiazepine verordnet bekämen, die ein eigenes Suchtpotenzial besitzen und deswegen bei Alkoholikern nur mit Vorsicht einzusetzen seien. Bei den nicht alkoholabhängigen Patienten sind es vier beziehungsweise sechs Prozent. Angeprangert wird auch die Verordnung von Neuroleptika bei Menschen mit einer Demenz. Jeder dritte Demenzkranke bekomme regelmäßig starke Beruhigungsmittel, haben die Wissenschaftler ermittelt. Das sei deswegen problematisch, weil der Einsatz von Neuroleptika bei Demenzpatienten mit einer um 60 bis 70 Prozent höheren Sterblichkeit assoziiert sei. Kritisch gesehen wird schließlich der zunehmende Einsatz von Antibabypillen mit neuen Gestagenen, die im Gegensatz zum – laut BARMER-GEK und Glaeske – Gestagen der Wahl, Levonorgestrel, ein um 50 bis 100 Prozent höheres Thromboembolierisiko hätten.
Diese Zahlen muss man erst einmal so zur Kenntnis nehmen. Sie sind richtig, aber die Frage ist natürlich, wie diese Zahlen interpretiert und kommuniziert werden. Für die Herausgeber des Arzneimittelreports ist die Welt recht einfach: „Sowohl bei neuen patentfähigen Antibabypillen, bei Neuroleptika für demenzkranke Menschen als auch bei Benzodiazepinen für alkoholkranke Menschen gibt es seit Jahren klare Gegenanzeigen und Warnhinweise. Trotzdem wird weiter in kritischer Größenordnung verschrieben“, lässt sich Glaeske zitieren. Er suggeriert damit, dass Ärzte in großer Zahl medizinisch fragwürdige Therapien verordneten beziehungsweise nicht in der Lage seien, den Beipackzettel zu lesen. Aber ist das so?
Ein differenzierter Blick auf die Zahlen tut Not
Bei einem etwas genaueren Blick auf die Zahlen gibt es durchaus einige Aspekte, die es wert wären, sie mit zu kommunizieren. Beispiel Antibabypille: Bei einem 50 bis 100 Prozent höheren Thromboembolierisiko schlackert erst einmal jeder Zeitungsreporter mit den Ohren. Aber was heißt das? Es heißt konkret: Zwei von 10.000 Frauen, die eine Pille mit traditionellem Gestagen nehmen, entwickeln eine Thromboembolie. Das ist wenig. Bei den neuen Gestagenen sind es drei bis vier von 10.000. Das ist mehr, aber immer noch wenig. Die „Number Needed to Harm“ liegt zwischen 5.000 und 10.000, wenn die eine gegen die andere Pillensorte aufgerechnet wird. Die Schlagzeile „Verschreibung hoch riskanter Antibabypillen“ machte ein Naturheilkundeportal aus dieser Zahl. Man fragt sich, welches Adjektiv der Autor bei wirklich riskanten Therapien wählen würde. Ob dieses wenige Mehr an Risiko vertretbar ist oder nicht, ist eine individuelle Entscheidung im Gespräch zwischen Arzt und Patientin. Wirklich problematisch wäre sie Sache dann, wenn der Arzt die Patientin bewusst über das gering höhere Thromboserisiko im Unklaren lassen würde. Das freilich behauptet der Arzneimittelreport nicht.
Auch bei den Benzodiazepinen gibt es zumindest Bedarf an einer gewissen Präzisierung. Alkoholkranke Menschen im akuten Entzug erhalten häufig Benzodiazepine. Dagegen hat auch Glaeske nichts, wie er bei der Vorstellung der Ergebnisse betonte. Eine Antwort auf die entscheidende Frage allerdings wird dann nicht gegeben, nämlich: Welcher Anteil der bei alkoholkranken Menschen verordneten Benzodiazepine wird denn im Entzug verordnet? Solange diese Zahl nicht vorliegt, kann man mit der Verordnungsquote nicht wirklich etwas anfangen.
Am wenigsten angreifbar sind die Vorwürfe bei den Demenzkranken, wo die Verordnungsprävalenz bei den Neuroleptika um den Faktor 6 höher liegt als bei nicht an Demenz erkrankten Menschen. Das widerspricht nun tatsächlich allen Empfehlungen. Auch hier kann man allerdings einwenden, dass es offensichtlich ein Problem bei der Versorgung Demenzkranker gibt, von dem viele Ärzte glauben, es nicht anders als mit Neuroleptika lösen zu können. Flächendeckende integrierte, multidisziplinäre Versorgungsprogramme für diese Patienten könnten möglicherweise helfen. Das ist den Kassen aber zu teuer. Und noch etwas: Eine Explosion der Verordnung von Neuroleptika bei Demenzkranken gibt es nicht. Die Quote ist relativ konstant beziehungsweise seit einigen Jahren leicht rückläufig.
Biosimilar-Quoten hängen stark vom KV-Bezirk ab
Nach diesem Ausflug in die Medizin kehrt der Arzneimittelreport dann wieder auf klassisches Terrain zurück und beklagt speziell die zurückhaltende Verordnung von Biosimilars. Glaeske sieht hier Einsparpotenziale von 20 bis 25 Prozent und die KVen in der Pflicht: „Als effiziente und qualitätssichernde Instrumente der Kostensteuerung werden Biosimilar-Quoten auf KV-Ebene immer wichtiger.“
Hier liefert der Report dann auch wirklich instruktive Zahlen, die zeigen, dass die Biosimilar-Quoten bei Erythropoietin zwischen unter 30 Prozent im Saarland und über 60 Prozent in Bayern, Niedersachsen, Westfalen-Lippe und Bremen schwanken. Das muss sicher nicht so sein. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) weist darauf hin, dass den Krankenkassen durch das AMNOG erhebliche Möglichkeiten eingeräumt wurden, Preise mitzugestalten. „Die Kassen müssen nur die Möglichkeiten konstruktiv nutzen und sich nicht hinter dem Begriff des Kostenträgers verstecken“, so der BPI lakonisch.