Würmer können Gesunde krank machen, aber möglicherweise auch Kranke gesünder - etwa Patienten mit Multipler Sklerose. Bislang ist das nur eine Hoffnung, aber keine absurde: Mehrere Studien prüfen derzeit unterschiedliche Wurm-Therapien. Erste Daten sind keineswegs negativ.
Die Idee, dass Parasiten gegen Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose und gegen Allergien helfen könnten, ist nicht neu. Hinweise auf mögliche therapeutische Effekte von Eiern des Peitschenwurms (Trichuris suis ova) etwa hat es vor allem bei chronisch entzündlichen Darmkrankheiten in den vergangenen Jahren schon mehrfach gegeben. Seit wenigen Monaten läuft bei Crohn-Patienten eine Studie mit einer Suspension aus Peitschenwurmeiern. In den USA probieren Wissenschaftler an der „Mount Sinai School of Medicine“ die Wurmeier-Therapie sogar bei erwachsenen Autismus-Patienten aus. Erste Ergebnisse könnten noch dieses Jahr vorliegen. Und in Israel untersuchen derzeit Ärzte des „Beth Israel Deaconess Medical Center“, ob die Eier des Schweinepeitschenwurms Patienten mit Nahrungsmittelallergien helfen könnten.
Auch mit der Hygiene kann man‘s „übertreiben“
Die Theorie hinter diesen Wurm-Therapien ist die so genannte Hygiene-Hypothese. Danach sind Autoimmunerkrankungen und Allergien in modernen Industriestaaten deswegen relativ häufig, weil die Bewohner kaum noch oder gar keinen Kontakt mehr zu Parasiten und anderen Infektionserregern haben. Das immunologische Prinzip der Wurm-Therapie beruht darauf, dass die Infektion mit den Parasiten die systemische Immunreaktion so moduliert, dass Entzündungsprozesse, etwa bei der MS, geschwächt werden. Die Idee, die Wurm-Therapie auch bei MS-Patienten zu erproben, geht auf eine Studie aus dem Jahr 2007 zurück: Damals berichteten die argentinischen Forscher Jorge Correale und Mauricio Farez in den „Annals of Neurology“ über ihre Beobachtung, dass bei MS-Patienten, die mit dem Parasiten infiziert waren, die Erkrankung nicht so rasch voranschritt wie bei Nichtinfizierten.
Statt Pille oder Spritze: 2500 Wurm-Eier - alle zwei Wochen
Nun hat eine kleine US-Studie der Phase 1 (HINT-1-Studie) mit fünf MS-Kranken ergeben, dass unter der Therapie mit Eiern des Schweinebandwurms die Zahl der MS-typischen zerebralen Läsionen abgenommen hatte. Nach dem Ende der Therapie nahm die Zahl der kernspintomografisch diagnostizierten Läsionen wieder zu - ebenfalls ein Hinweis auf eine Wirkung der Wurmeier. Die dreimonatige Behandlung mit der Wurmeier-Suspension sei außerdem gut vertragen worden, berichtet das Team um den Neurologen Professor John Fleming („University of Wisconsin“ in Madison) im „Multiple Sclerosis Journal“. Das Getränk mit 2500 Eiern, das die Probanden alle zwei Wochen genießen durften, habe nur etwas salzig und keineswegs eklig geschmeckt. „Die Ergebnisse sind recht vielversprechend“, sagt John Fleming. Der HINT-1-Studie, die von der US-amerikanischen Multiple-Sklerose-Gesellschaft finanziert wurde, soll daher bald eine etwas größere zehnmonatige Phase-2-Studie (HINT-2) folgen. An ihr sollen 18 MS-Patienten teilnehmen. Erste Ergebnisse erwartet Fleming Ende 2012.
Ein Selbstversuch mit bohrenden Würmern
Eine ähnliche Wurm-Studie bei MS-Patienten läuft seit April dieses Jahres auch an der Universität von Nottingham. In dieser Phase-2-Studie mit 30 Patienten wird allerdings der Hakenwurm getestet. Die Patienten müssen auch keine Wurmeier-Suspension trinken; sie bekommen 25 lebende Larven des Hakenwurms (Necator Americanus) per Pflaster auf die Armhaut appliziert. Nach rund neun Monaten werden die Patienten dann mit Mebendazol „entwurmt“. Die Dauer der Studie (WIRMS-1) beträgt 48 Wochen. Erste Resultate sollen in zwei Jahren vorliegen. Um zu wissen, was den Patienten „angetan“ wird, hat Professor David Pritchard, einer der Studienleiter, übrigens einen Selbstversuch vorgenommen - mit 50 Hakenwurm-Larven. Keine heroische Tat, aber doch eine, die ihn etwas beunruhigt habe, gesteht Pritchard. Die Larven der humanpathogenen Hakenwürmer bohren sich nämlich in die Haut und gelangen über Blut, Lunge, Luft- und Speiseröhre bis in den Darm. Besonders angenehm sei es jedenfalls nicht gewesen, als die Larven die Haut durchbohrt und sich im Darm festgesetzt haben, sagt der Immunbiologe. Die Probanden der Studie werden allerdings mit maximal nur 25 Larven behandelt, was in der Regel eine nur wenig symptomatische Infektion hervorruft.
Preiswert, aber nur etwas wirksam und vielleicht doch nicht „gesund“
Nach Ansicht des britischen Neurologen und MS-Forschers Professor Alasdair Coles (Universität von Cambridge) hat die möglicherweise wirksame Wurm-Therapie sicher Vorteile. Sie sei - in Relation zu modernen MS-Präparaten - recht preiswert und wahrscheinlich auch relativ sicher. Die Erwartungen an die Wirksamkeit sollten aber nicht zu hoch gesteckt werden. Nach den bisherigen Daten seien zwar therapeutische Effekte vorhanden. Diese seien jedoch recht schwach ausgeprägt. Noch kritischer ist offensichtlich Professor Ralf Gold, Vorstandsmitglied des Kompetenznetzes Multiple Sklerose und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: „Bereits seit längerem ist bekannt, dass MS-Patienten mit Parasiteninfektionen weniger Schübe und Krankheitsaktivität in der Kernspintomografie zeigen. Allerdings raten wir zum jetzigen Zeitpunkt von dieser Therapie aufgrund unzureichender Erfahrungen über Wirkung und systemische Risiken dringend ab.“ Und weiter: „Wenn die Ergebnisse durch adäquate, verblindete, randomisierte Studien bestätigt werden können, ist die Wurmtherapie durchaus eine interessante Option für die Zukunft“, sagt Gold. „Bis dahin müssen wir von der Therapie abraten, weil uns wichtiges Wissen zu potenziellen Nebenwirkungen, wie eine mögliche Organschädigung durch Invasion der Würmer aus dem Darm und eine eventuell abgeschwächte oder verstärkte Immunität gegenüber anderen Krankheitserregern, fehlt.“
Um die Eier des Peitschenwurms etwa zu gewinnen, werden trächtige Würmer aus dem Darm von Schweinen entnommen. Dabei könne eine zusätzliche Übertragung von artfremden Erregern nicht ausgeschlossen werden, heißt es in einer Stellungnahme. „All dies lässt uns im modernen Industriezeitalter zögern, einen solchen Therapieversuch bei MS mit ruhigem Gewissen zu empfehlen – moderne MS-Medikamente erfordern zwar Sicherheitsmaßnahmen und sind hochpreisig, aber wahrscheinlich in vielen Aspekten diesem Ansatz überlegen“, sagt Gold.
Nur ein Aspekt, bei dem die Wurm-Therapie den modernen Pillen vielleicht nicht „das Wasser reichen kann“, könnte die Compliance sein. Aber das ist nur eine Vermutung, die natürlich noch in einer randomisierten kontrollierten Studie zu beweisen wäre.