Medizinische Notfälle auf Flügen sind selten, doch durch das zunehmende Alter der Passagiere und häufigere Vorerkrankungen werden sie in Zukunft zunehmen. Wie können sich Fluggesellschaften darauf vorbereiten? Und was ist zu beachten, wenn man als Arzt an Bord Hilfe leistet?
Jeder Arzt könnte damit konfrontiert werden: Eine Durchsage im Flugzeug weist auf einen medizinischen Notfall an Bord hin – und ruft medizinische ausgebildete Fluggäste zur Unterstützung auf. Obwohl lebensbedrohliche Vorfälle auf Flügen selten sind, stellen sie Bordpersonal und freiwillige Helfer vor große Herausforderungen. Denn sowohl die technische Ausstattung als auch das verfügbare Fachpersonal entsprechen nicht der Notfallausstattung in einem Krankenhaus. Die Zahl der Flugpassagiere nimmt weltweit zu. So reisten 2016 etwa 3 Milliarden Menschen mit kommerziellen Flügen, in Deutschland waren es 201 Millionen. Bisherigen Untersuchungen zufolge kommt es bei einem von 14.000 bis zu einem von 40.000 Passagieren zu einem medizinischen Notfall. In etwa sieben bis 13 Prozent der Fälle führt der Notfall zu einer außerplanmäßigen Zwischenlandung des Flugzeugs. Und etwa 0,3 Prozent der Betroffenen starben in Folge des Notfalls.
Diese Zahlen könnten in den kommenden Jahren weiter ansteigen – unter anderem, weil immer mehr ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen fliegen. „Das Thema medizinische Notfälle bei Flügen wird in den nächsten Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnen“, sagt Prof. Dr. Jochen Hinkelbein, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin (DGLRM) und Notfallmediziner an der Uniklinik Köln. Allerdings gibt es bisher keine Leitlinien, die Maßnahmen für die Vorbereitung auf einem medizinischen Notfall an Bord sowie den Umgang mit solchen Notfällen festlegen. Außerdem werden Häufigkeit, Ursachen und Folgen solcher Notfälle bisher nicht systematisch erfasst. „Dies wäre jedoch eine wichtige Voraussetzung, um eine geeignete medizinische Notfallausrüstung an Bord und sinnvolle Trainingsmaßnahmen für das Bordpersonal zu definieren und geeignete Empfehlungen für den Umgang mit Notfällen an Bord geben zu können“, schreiben Hinkelbein und sein Team. „Wir fordern daher dringend eine internationale, zentrale Datenbank, in der medizinische Notfälle bei Flügen systematisch erfasst werden.“
Die häufigsten Ursachen für Notfälle bei Flügen sind einer Studie zufolge ein Kreislaufkollaps bzw. eine Kreislaufinstabilität (Präsynkope) – beides zusammen macht 37 Prozent der Vorfälle aus. An zweiter Stelle stehen Symptome der Atemwege (12 Prozent) wie etwa Atemnot, gefolgt von Übelkeit und Erbrechen (9,5 Prozent). 8,5 Prozent der Betroffenen wurden nach dem Vorfall stationär im Krankenhaus behandelt – meist wegen des Verdachts auf einen Schlaganfall, Atemwegs-Symptomen oder Herzproblemen. In einer weiteren Studie, in der Flugmediziner befragt wurden, waren Herz-Kreislauf-Erkrankungen (40 Prozent) und neurologische Symptome (18 Prozent) die Hauptursachen für Notfälle auf Flügen. Zwar gibt es an Bord jedes Flugzeugs eine vorgeschriebene Minimal-Ausrüstung für medizinische Notfälle und das Bordpersonal muss ein Training für bestimmte Notfallmaßnahmen absolviert haben, wie es in Europa die European Aviation Safety Agency (EASA) festlegt. An Bord müssen ein Erste-Hilfe-Koffer und bei Flugzeugen mit über 30 Sitzen ein „Emergency Medical Kit“ vorhanden sein. Allerdings ist nicht bis ins letzte Detail festgelegt, was dieses Kit enthalten muss. In den USA ist vorgeschrieben, im medizinischen Notfall-Set einen Defibrillator und Adrenalin zur Behandlung eines Kreislaufschocks mitzuführen – in Europa gibt es solche Vorschriften bisher nicht. Zusätzliche Ausstattung für Notfälle kann von Fluggesellschaft zu Fluggesellschaft deutlich variieren. So ergab eine Studie des Forscherteams um Hinkelbein, dass von den 13 teilnehmenden deutschen Fluggesellschaften zwar alle die vorgeschriebene Minimal-Ausrüstung an Bord hatten, aber nur vier mit einem Defibrillator und nur sieben mit einem erweiterten medizinischen Notfallset ausgestattet waren. „Insgesamtentspricht die Ausstattung der Fluggesellschaften für medizinische Notfälle den gesetzlichen Vorgaben“, sagt Hinkelbein. Allerdings reiche sie bei den meisten Fluggesellschaften nicht aus, um spezifische Notfallsituationen nach medizinischen Leitlinien zu behandeln, schreiben die Forscher – etwa, um bei einem akuten Herzinfarkt eine Herz-Lungen-Wiederbelebung durchzuführen.
Ein seltener, aber schwerwiegender Vorfall auf Flügen ist ein akuter Herz-Kreislauf-Stillstand: Dieser macht zwar nur 0,3 Prozent der medizinischen Notfälle bei Flügen aus, ist aber für 86 Prozent der Todesfälle verantwortlich. Eine Arbeitsgruppe der DGLRM um Jochen Hinkelbein hat nun erstmals eine Leitlinie entwickelt, die Fluggesellschaften Maßnahmen zum Umgang mit einem Herzstillstand an Bord empfiehlt. Diese stellten die Forscher Anfang Juni auf der Euroanaesthesia-Konferenz in Genf vor. Nun ist geplant, die einzelnen Fluggesellschaften direkt zu kontaktieren und sie zu überzeugen, diese Aspekte in ihren Notfallmaßnahmen-Katalog aufzunehmen.
Neben Herzerkrankungen können auch Allergien und Asthma zu Notfällen bei Flügen führen – etwa bei einem schweren Asthmaanfall oder einer schweren allergischen Reaktion. „Über die Häufigkeit solcher Notfälle ist bisher wenig bekannt. Doch wir fürchten, dass dieses Thema bisher nicht die notwendige Aufmerksamkeit erhalten hat“, schreibt ein internationales Forscherteam um Mario Sánchez-Borges vom Centro Médico Docente La Trinidad in Caracas (Venezuela). So schätzen Studien, dass zwei bis vier Prozent der medizinischen Probleme bei Flügen auf Allergien zurückgehen. Die speziellen Bedingungen bei einem Flug könnten Asthmaanfälle oder allergische Reaktionen begünstigen, insbesondere der geringere Sauerstoffgehalt und die niedrige Luftfeuchtigkeit in der Kabine. Wichtig sei daher, die Häufigkeit von allergischen und Asthma-bedingten Notfällen sowie Möglichkeiten zur Vorbeugung und Behandlung in zukünftigen Studien zu erfassen. „Außerdem sollten Risiko-Passagiere und die Fluggesellschaften mit den notwendigen Maßnahmen ausgestattet werden, um solchen Notfällen vorzubeugen und sie angemessen zu behandeln“, betonen Sánchez-Borges und sein Team. Bisher sei die Ausstattung zur Behandlung solcher Notfälle im Flugzeug begrenzt. Viele Fluggesellschaften hätten zwar inzwischen Strategien eingeführt, um mit solchen Vorfällen umzugehen. Allerdings gebe es bisher keine standardisierten Maßnahmen für alle Fluggesellschaften. „Hier sollten zusammen mit spezialisierten Ärzten evidenzbasierte Empfehlungen erarbeitet werden“, so die Forscher um Sánchez-Borges. Sinnvoll sei etwa, im Notfallset auch Corticosteroide, Antihistaminika und Beta-2-Agonisten zur Behandlung eines akuten Asthma-Anfalls mitzuführen.
Wer selbst Arzt ist, sollte nicht zögern, bei einem Notfall an Bord medizinische Hilfe zu leisten – auch wenn eine solche Situation eine starke Stressbelastung sein kann. „Man sollte sich bewusst sein, dass diese Hilfe den Ausgang von Notfällen deutlich verbessern kann“, betont Hinkelbein. „Deshalb sollte man auf jeden Fall Hilfe leisten.“ Mit negativen Folgen hätten freiwillige Helfer kaum zu rechnen. „Das Risiko, bei einem möglichen negativen Ausgang haftbar gemacht zu werden, ist nahezu ausgeschlossen“, sagt der Wissenschaftler. „Hier bieten verschiedene Gesetze Schutz für Notfallhelfer an Bord.“ Wer bereit ist, während eines Flugs medizinische Hilfe zu leisten, kann sich bereits vor Abflug informieren, welche Medikamente und medizinischen Geräte an Bord vorhanden sind. „Tritt ein Notfall ein, sollte sich der helfende Arzt zunächst erkundigen, wo sich das Material befindet“, sagt Hinkelbein. „Außerdem ist es günstig, sich mit einem Dokument als Arzt auszuweisen.“ Im weiteren Verlauf sollte der Helfer regelmäßig mit dem Flugkapitän Rücksprache halten, ihm Auskunft über den Zustand des Patienten geben und ihn beraten, ob eine außerplanmäßige Zwischenlandung notwendig sei. Die Entscheidung dafür treffe aber letztendlich der Kapitän. „Wer im Flugzeug Hilfe leistet, sollte sich klar machen, dass ein Notfall in der Regel bewältigbar ist, die Möglichkeiten dafür aber oft begrenzt sind“, so Hinkelbein. „Letzten Endes sollte jeder so gut Hilfe leisten, wie es in dieser ungewohnten Umgebung eben möglich ist.“