Regelmäßig sind Jugendreiseveranstalter auf der Suche nach Betreuungspersonal. Als Medizinstudent kann man als medizinischer Betreuer seine erste "Allgemeinarztpraxis" im Sommercamp eröffnen. Ein Erfahrungsbericht.
Wir stehen auf der ca. 50qm großen, 1m hohen Bühne, irgendwo auf einem Campingplatz bei Ostia in der Nähe von Rom. Die 20-stündige Busfahrt sitzt tief in den Knochen, man wird halt doch älter. Die Müdigkeit wirkt gegen Nervosität besser als Beta-Blocker, als 650 Kinderaugen auf uns hochschauen. „Ich heiße Jan, studiere Medizin im 10. Semester und komme aus Mainz. Conrad und ich sind für die nächsten 10 Tage euer medizinisches Personal. Wenn ihr ein gesundheitliches Problem habt, kommt einfach zu Zelt 18.“ Ein paar Zurufe aus der wabernden Menge, 2 seelenlose Klatscher und wir verlassen die Bühne wieder um dem DLRG Team Platz zur Vorstellung machen.
Die Tüte griffbereit!
Anfang des Jahres haben wir uns von einer Freundin überzeugen lassen, bei einem Jugendreisenveranstalter anzufragen, um als medizinisches Personal nach Italien zu fahren. Das Bewerbungsverfahren war unkompliziert, die Zusage stand nach 2 Wochen, das Vortreffen stellte wesentliche Informationen bereit.
Samstagnachmittags wurden wir aus Mainz abgeholt. Der Reisebus füllt sich mit Kindern zwischen 13 und 18 Jahren, 2 weitere Betreuer sind auch schon dabei. Auf der Hinfahrt schon die erste medizinische Konsultation. Ein Mädchen, 15 Jahre, erbricht sich in den Bus. Die Reinigungspause dauert 20 min. Da keine Reisetabletten verfügbar sind, soll sie sich nach vorne setzen, Wasser trinken und sich bitte eine Tüte bereit halten. Im Laufe der Fahrt müssen 2 weitere T-Shirts gewechselt werden.
Dienst in Zelt 18
Die brennende Hitze von Ostia ist eine willkommende Abwechslung zum trüben deutschen Sommer. Wir beziehen unsere „Krankenstation“, ein 8 Personen Zelt mit Holzboden, und begutachten erstmal das Equipment. Reisetabletten (Dimenhydrinat), ein wenig Verbandsmaterial, Paracetamolzäpfchen und Brandsalbe. Die beschränkten Möglichkeiten deuteten schon mal auf einen ruhigen, kostenfreien Urlaub.
Kaum ein paar Stunden später kommen die ersten neugierigen Gesichter. Juckende Mückenstiche, leichte Kopfschmerzen oder Sonnenbrand werden zum Tagesgeschäft mit dem Verweis auf Kühlpacks aus der Küche, die Mahnung, bei der Hitze viel zu trinken, und sich vor dem Sonnenbad ordentlich einzucremen.
Der erste ernst zu nehmende Patientenfall war ein 15-jähriger Junge, der aufgrund von Bauchschmerzen am 3. Tag sein Zelt nicht verlassen konnte. Wandernde Schmerzen vom Epigastrium in den rechten Unterbauch, McBurney und Lanz, sowie Rovsing-Zeichen positiv. Kein Fieber, normale Darmgeräusche. „Ok, was sollen wir machen?“ wurde ich vom Dorfleiter gefragt. Die erste konsequenztragende medizinische Entscheidung, die ich ohne Assistenz- oder Oberarzt im Hintergrund zu treffen habe. „Ins Krankenhaus. Wenn's der Blinddarm ist, sollte man nicht zu lange abwarten.“ Also werden Mittel und Wege in Bewegung gesetzt, der Junge kommt ins Krankenhaus. Dort wird er auch 4 Tage stationär unter der Arbeitsdiagnose „Appendizitis“ mit Breitspektrum-Antibiose behandelt. Operiert wird er nicht, aber sicher war eben sicher.
Die folgenden Tage werden Trips nach Rom und Capri geplant. Die Hitze und das lange Laufen macht gerade den Mädchen zu schaffen. Die gute Prognose von 3 neurokardiogenen Synkopen und prächtigen Beinödemen am Ende des Tages müssen beunruhigten, z.T. subhysterischen Teilnehmern einfühlsam vermittelt werden.
Tatsächlich gab es aber auch potentielle Notfälle. Die Bilanz umfasst eine tiefe Fleischwunde am Daumen durch eine Scherbe, vor Ort blutstillend versorgt und im Krankenhaus mit 8 Stichen genäht, sowie eine anaphylaktoide Reaktion mit Zuschwellen der Atemwege durch Allergie auf Mangobowle und ein Asthmaanfall bis zur Somnolenz und Zyanose.
Eine empfehlendswerte Erfahrung
Zusammengenommen betreffen 80% der Konsultationen Kleinigkeiten, die eine solide Praxisgebühr wahrscheinlich abgeschmettert hätte. Hier und da wird aber dennoch die eigene vorärztliche Souveränität geprüft. Das eigenverantwortliche Handeln ist eine schöne Herausforderung und man merkt, dass 5 Jahre Studium nicht ganz spurlos an einem vorübergegangen sind. Insgesamt ist aus der ursprünglichen Suche nach einem kostengünstigen Urlaub ist eine wesentlich intensivere Erfahrung geworden, die ich gerne empfehlen kann, sofern man gewillt ist, seine Urlaubszeit den Regeln und Pflichten der Jugendreiseveranstaltung anzupassen.