Razzien in Apotheken, Ärzte in Handschellen: Die Berichte über Korruptionsfälle im Gesundheitswesen reißen nicht ab. Krankenkassen begeben sich selbst auf die Jagd nach schwarzen Schafen, Abhilfe könnten neue Regelungen schaffen.
Nur die Spitze des Eisbergs? Ende 2010 ermittelte die Staatsanwaltschaft mehrfach gegen Apotheker in Hessen. Kassen wurden mit „Luftrezepten“ geneppt, teure Krebs- oder HIV-Medikamente, die nie über den HV-Tisch wanderten, abgerechnet. Dafür erhielten schwer Drogenabhängige Flunitrazepam. Woher die ursprünglichen Verordnungen aber kamen, ist nach wie vor unklar. In einem anderen Fall kam der Reibach durch fingierte Bestellungen. Ein Arzt orderte Sprechstundenbedarf via Kassenrezept, und ein Apotheker lieferte – nichts. Er reichte die Rezepte beim zuständigen Rechenzentrum ein, und das Geld floss. Geschätzter Schaden: 556.000 Euro. Keine Einzelfälle, wie die KKH-Allianz berichtet. Sie beziffert ihren Schaden durch Ärzte im letzten Jahr auf 953.000 Euro. Den zweiten Platz der Negativ-Rangliste nehmen KKH-Angaben zufolge Apotheken ein, mit einer Summe von 431.000 Euro. Doch auch Versicherte sehen oft nur ihren Nutzen – 189.000 Euro gingen so verloren.
Korruption kennt keine Grenzen
Andere Länder, gleiche Sorgen: Das Europäische Netzwerk über Betrug und Korruption im Gesundheitswesen, kurz EHFCN, beziffert Schäden durch Bestechlichkeit auf 56 Milliarden Euro pro Jahr. „Trotz der unterschiedlichen Gesundheitssysteme in der gesamten Europäischen Union treten Betrug und Korruption überall auf, und das ist ein sehr ernstes Problem“, sagt der EHFCN-Vorsitzende Paul Vincke. Im Rahmen einer Konferenz versuchten Delegierte aus 20 Ländern, Erfahrungen auszutauschen und Standards zu Minimierung der illegalen Praktiken zu entwickeln – inwieweit die Strategien fruchten, wird sich zeigen. Speziell für Deutschland liefert eine Studie weitere Details. Dazu befragte die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers zusammen mit der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg 500 Vertreter aus diversen Verwaltungen des Bundes, des Landes und der Kommunen sowie 1.000 Einzelpersonen. Das Resultat: Pro Jahr schlagen etwa 20.000 Delikte zu Buche, geschätzter Schaden: zwei Milliarden Euro. Und in 8.500 Fällen ermittelte sogar die Staatsanwaltschaft.
Im Dickicht der Gesetze
Juristen können als Grundlage einer möglichen Verurteilung lediglich den Paragraphen 263 des Strafgesetzbuches heranziehen. Auch der Bundesgerichtshof argumentiert bei Sozialversicherungsbetrug mit dieser Stelle. Ein Problem: Im Falle einer Anklage müssen Staatsanwälte den ökonomischen Schäden klar beziffern – kein leichtes Unterfangen in einem Dickicht aus gesetzlichen Regelungen im Gesundheitswesen. Verstoßen Apotheken oder Ärzte beispielsweise gegen Rabattverträge, so muss letztlich aus Daten mehrerer Krankenkassen eine Differenz zwischen dem Wert des Generikums und des Originalpräparats errechnet werden. Damit haben viele Versicherungen schon im Tagesgeschäft ihre liebe Not, wie sich jetzt bei der Umsetzung der Mehrkostenregelung in Apotheken zeigt. André Schmidt von der Zentralstelle für Korruptionsstraftaten, Staatsanwaltschaft Braunschweig, fordern deshalb eine weitere Klarstellung durch den Gesetzgeber: „Dies wäre die Voraussetzung, um strafrechtlich etwa gegen die unlautere Einflussnahme auf das Verordnungsverhalten eines Vertragsarztes einschreiten zu können.“
Freiberufler – Freikarte zur Korruption?
Justitias Vertreter hadern aber noch mit einem ganz besonderen Problem: Kann der Paragraph 299 („Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr“) des Strafgesetzbuchs auch für Ärzte und Apotheker angewendet werden? Stein des Anstoßes ist die Formulierung: „Wer als Angestellter oder Beauftragter eines geschäftlichen Betriebes im geschäftlichen Verkehr einen Vorteil für sich oder einen Dritten als Gegenleistung dafür fordert […], wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ Ärzte und Apotheker – Angestellte? Sicher nicht, doch Gerichte interpretieren den Passus immer häufiger so, dass Kollegen als Beauftragte der Krankenkassen agieren. Stellt ein Arzt etwa Rezepte aus, so ein Urteil des Oberlandesgerichts Braunschweig, löst dies einen Kaufvertrag zwischen der Apotheke und der Krankenkasse aus. Damit müsse er im Interesse des Betriebs, sprich der Krankenkasse, handeln. Untersagt sind folglich Umsatzprovisionen von Generikaherstellern, die zu gezielten Verordnungen führen sollen.
Ein entsprechendes Grundsatzurteil zur rechtlichen Stellung von Arzt und Apotheker wäre dennoch erforderlich, um strafrechtlich besser agieren zu können. Doch der Bundesgerichtshof (BGH) hält sich bedeckt und hat eine für Anfang Mai erwartete Klärung des Sachverhalts erst einmal auf die lange Bank geschoben. Bevor der Senat eine Entscheidung treffen könne, so Richter Jörg-Peter Becker, müsse die grundlegende Frage geklärt werden, ob ein Kassenarzt ein Amtsträger für die Versicherungen ist oder nur ein Beauftragter der Kassen. Damit soll sich jetzt der Große Senat am BGH befassen.
Vorsprung mit dem Versorgungsgesetz
Zumindest der Referentenentwurf des geplanten Versorgungsgesetztes bringt etwas Licht in die Sache. Das Papier sieht neben etlichen Punkten auch eine Überarbeitung des Fünften Sozialgesetzbuchs, Paragraph 128, vor. Ihre Empfehlung: „Unzulässige Zuwendungen […] sind auch die unentgeltliche oder verbilligte Überlassung von Geräten und Materialien und Durchführung von Schulungsmaßnahmen, die Gestellung von Räumlichkeiten oder Personal oder die Beteiligung an den Kosten hierfür sowie Einkünfte aus Beteiligungen an Unternehmen von Leistungserbringern, die Vertragsärzte durch ihr Verordnungs- oder Zuweisungsverhalten selbst maßgeblich beeinflussen können.“ Ein weiteres Novum: „Vertragsärzte, die unzulässige Zuwendungen fordern oder annehmen oder Versicherte zur Inanspruchnahme einer privatärztlichen Versorgung an Stelle der ihnen zustehenden Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung beeinflussen, verstoßen gegen ihre vertragsärztlichen Pflichten.“
Gesucht: Experten im Gesundheitsrecht
Doch mit der Überarbeitung einiger Textpassagen wird es nicht getan sein. Der Würzburger Wirtschaftskriminalist Uwe Dolata sieht noch ganz andere Probleme: „Es fehlt das Know-how und das notwendige Personal.“ Viele der Abläufe im Gesundheitswesen könnten nur Experten verstehen. Auch seien „Verfahren mit Gutachterstreitigkeiten versehen, mit einer schwammigen Gesetzeslage“ und mit „einer Reihe von sehr guten Anwälten auf der Gegenseite“, gibt Dolata zu bedenken. Er moniert auch die fehlende regelmäßige Kontrolle – „Es ist ein Problem, dass Patienten nicht direkt mit Ärzten, Krankenhäusern und Apothekern abrechnen.“