Etwa 209.000 Patienten erhielten letztes Jahr eine neue Hüfte, so der „Krankenhaus-Report“ der Barmer GEK. Allerdings erfasste bis dato niemand Probleme nach den Eingriffen. Ein bundesweites Endoprothesenregister soll jetzt Abhilfe schaffen.
Mehr als eine Schraube locker: Immer wieder treten Monate oder Jahre nach Einsetzen von Endoprothesen Schwierigkeiten auf. Jährlich stehen in 35.000 Fällen – fast bei jedem zehnten Patienten – Revisions-OPs an. Meist finden Chirurgen aber keine altersbedingen Abnutzungen der künstlichen Gelenke, sondern vielmehr bauartbedingte Defekte. Von einer systematischen Erfassung, wie bei vielen Autoherstellern mittlerweile üblich, ist man meilenweit entfernt, doch der Rubel rollt trotzdem.
Endoprothetik: Fluch oder Segen?
Für die Industrie entpuppt sich der Markt als Millionengeschäft: Eine tendenziell immer ältere Gesellschaft braucht eben diverse Endoprothesen. „Wenn das so weitergeht, haben bald alle 60- bis 65-jährigen Rentner ein neues Knie oder eine neue Hüfte“, unkt Dr. Rolf-Ulrich Schlenker, der Vizechef der Barmer GEK, angesichts stetig steigender Patientenzahlen. Aber auch jüngere Zielgruppen, die nach Sport- oder Verkehrsunfällen diverse Implantate benötigen, werden verstärkt ins Visier genommen. Vollmundige Werbeslogans versprechen ein Leben nahezu ohne Einschränkungen, Leistungssport inklusive. Die Realität sieht oft anders aus: „Wir bauen eine lebenslange Krankheit ein“, sagt Professor Dr. Raimund Forst vom Erlanger Uniklinikum.
Operation geglückt – Patient lahmt
Neue, vermeintlich viel versprechende Modelle erobern den Markt. Professor Dr. Michael Morlock von der Technischen Universität Hamburg-Harburg warnt: „High Performance hat eine geringere Fehlertoleranz.“ Neuartige Materialien oder Verfahren würden in der Endoprothetik zu schnell eingesetzt. Hingegen seien klassische Systeme „unglaublich erfolgreich“.
In der Praxis kommt nach der Hightech möglicherweise ein böses Erwachen, wie aktuelle Zahlen der Barmer GEK zeigen. So stieg die Zahl der Hüft-Implantate von 2003 bis 2009 um 18 Prozent. Im gleichen Zeitraum wurden 52 Prozent mehr künstliche Knie eingebaut. Revisionseingriffe explodierten überproportional um 41 Prozent (Knie) bzw. 118 Prozent (Hüfte). Dazu zwei Fälle: Die „Galileo“-Halswirbelsäulenprothesen des deutschen Unternehmens Signus Medizintechnik mussten wegen möglicher Verschiebungen im Inneren zurückgerufen werden, ein Fehler im Produkt. Für Patienten besteht die Gefahr, sich ernste Verletzungen zuzuziehen, bis hin zur Querschnittslähmung. Ähnliche Berichte liegen auch vom Johnson & Johnson-Tochterunternehmens DePuy vor. Eine scheinbar innovative Oberflächenersatzprothese versprach, den Oberschenkelknochen zu schonen. Lediglich wie eine Zahnkrone befestigt, musste kein Schaft im Knochen einzementiert werden. Das klang für Patienten und Kollegen gut, war es aber nicht – der Abrieb kleinster Metallteilchen führte zu Entzündungen. Prothesen lockerten sich, und im Blut der Patienten fanden Ärzte den 300-fachen Wert an Chrom- bzw. Cobalt-Ionen, potenziell krebserregende Schwermetalle. Krankenkassen schätzen, dass 5.500 dieser Prothesen verbaut wurden, viele wissen noch nichts von der Bedrohung im eigenen Körper. Jetzt beginnt der Streit um das liebe Geld. Vertrauliche Verhandlungen zwischen Hersteller und Kassen seien schon im Gange, vermutet „Der Spiegel“. Doch warum zog DePuy das entsprechende Produkt bereits 2009 in Australien zurück, lieferte aber weiter nach Deutschland? Besser Sammler als Jäger
„Down under“ gibt es – wie auch in rund 20 anderen Ländern weltweit – seit Jahren ein zentrales Endoprothesenregister, das Daten sammelt und auswertet. Dieses Frühwarnsystem schlug auch bei DePuys Wunder-Endoprothese an, hohe Revisionsraten ließen die Orthopäden hellhörig werden. Das Prinzip hat Tradition: Eine der weltweit ersten Datensammlungen startete 1979 in Schweden, mit beträchtlichem Erfolg: Im Laufe der Jahre verringerte sich die Zahl der Revisionseingriffe um sage und schreibe 70 Prozent. Träger sind die regionalen Fachgesellschaften, und der Staat schießt die nötigen Gelder zu. Kliniken müssen meist verpflichtend melden, damit die Organisatoren auch große Datensätze erhalten.
Deutschland holt auf
Allein hier zu Lande tun sich Gesundheitspolitiker schwer. Rückrufaktionen sind in vielen Branchen längst Gang und Gäbe, nur nicht bei Ersatzteilen für Gelenke. Dabei lässt sich der Mehrwert eines Endoprothesenregisters sogar wissenschaftlich belegen. Dieses sei „nicht nur für die Medizin und die Kostenträger, sondern auch für die forschende Implantateindustrie ein wichtiges Zusatzinstrument zur Qualitätssicherung der jeweiligen Technologie und verfüge über ein großes Nutzenpotential hinsichtlich der Verlängerung der Überlebensrate von Implantaten – zum Wohle der Patienten“, so ein Sprecher des Bundesverbands Medizintechnologie (BVMed). Der erste Schritt ist jetzt mit großem Paukenschlag getan: Zusammen mit der AOK und dem BVMed hat die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) ein Register auf den Weg gebracht. Man müsse damit, so BVMed-Geschäftsführer Jochen Schmitt, vor allem die Revisionsgründe erfassen. Nur dann ließen sich „aussagekräftige Daten über die Qualität der Versorgung“ mit Endoprothesen erhalten.
Nur wer mitspielt, kann gewinnen
Momentan wandern Routine-Abrechnungsdaten der Kassen in ein Dokumentationssystem des Instituts für Qualität und Patientensicherheit. Kliniken hingegen liefern anonymisierte Daten über die durchgeführten OPs. Um Mehraufwand für Operateure zu vermeiden, steht ein Barcode-Scanner mit passendem Softwarepaket bereit, so dass jedes einzelne Bauteil auch im Routinebetrieb schnell erfasst werden kann. Kassen und Kliniken müssen hier nicht mitmachen, dennoch vermuten Experten, dass allein schon aus Reputationsgründen die Beteiligung hoch sein dürfte.
Hinzu komme die „weltweit einmalige Produktdatenbank“, so Professor Dr. Joachim Hassenpflug, Geschäftsführer des Endoprothesenregisters und Direktor der Orthopädie am Uniklinikum Schleswig-Holstein. „Im Mittelpunkt steht dabei, die Standzeit von Kunstgelenken zu dokumentieren, also die Zeit, in der ein neues Knie- oder Hüftgelenk ab der Operation im Körper verbleibt.“ Schon jetzt bewerten zahlreiche Gesundheitspolitiker das Register als extrem wertvoll. Und so wurde es kürzlich mit dem Innovationspreis des Dienstes für Gesellschaftspolitik (dfg) ausgezeichnet. Erste Resultate erhoffen sich die Initiatoren ab Ende 2013, bis zur vollen Leistungsfähigkeit muss man sich wohl noch fünf bis sieben Jahre gedulden. Dann ermögliche das Register „durch eine nahezu flächendeckende Erfassung, dass Auffälligkeiten bei Produkten oder in Kliniken schnell erkannt werden“, ist sich Joachim M. Schmitt, Vorstandsmitglied im BVMed, sicher. Geld gespart, Nutzen bewertet
Davon profitieren alle, sowohl medizinisch als auch ökonomisch. In Schweden, dort gibt es bereits seit 1979 entsprechende Meldepflichten, beziffern Gesundheitsökonomen das Einsparpotenzial auf etwa 14 Millionen Euro pro Jahr. Die Zahl der Wechsel-OPs halbierte sich, bei Hüftgelenksimplantaten konnte der Wert sogar um 70 Prozent reduziert werden. Ein weiteres Plus: Neben klinischen Studien könnten Registerdaten auch zur Bewertung von Medizinprodukten herangezogen werden. Entsprechende Forderungen kamen vom Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Professor Dr. Jürgen Windeler, zu seinem Amtsantritt.
Dennoch wächst der Wunsch, die Datenübertragung zur Pflicht zu machen. Marc D. Michel, Sprecher des Fachbereichs Endoprothetik / Implantate des BVMed, betont: „Es darf kein freiwilliges Register bleiben.“ Und laut Rolf Koschorrek (CDU), Mitglied im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages, komme man um eine gesetzliche Regelung nicht herum. Er sieht diese entweder im Versorgungsstrukturgesetz oder im Patientenrechtegesetz. Damit ist der Ball wieder beim Bundesministerium für Gesundheit gelandet.