Im 17. Jahrhundert entwickelte William Withering innerhalb eines Jahres aus dem Fingerhut den Arzneistoff Digitalis. Für heutige Verhältnisse ein Wimpernschlag. Die Voraussetzungen für Zulassungen sind nämlich erheblich strenger, aber auch streng genug?
Arzneimittelhersteller und Zulassungsbehörden haben naturgemäß unterschiedliche Auffassungen. Die Schnittmenge der Arzneimittelsicherheit bildet einerseits der Patient, andererseits die Finanzierbarkeit der Forschung. Hans-Georg Hoffmann, Vorsitzender des Bundesverbandes der Arzneimittelhersteller (BAH) kritisiert, dass die Zulassungsbehörde BfArM die gesetzlich festgelegte Bearbeitungsfrist von sieben Monaten meist überschreitet.
Zulassung mit Retardeffekt
In der Regel dauert die Bearbeitung des Zulassungsantrages zwölf bis achtzehn Monate. Derzeit stapeln sich 5.500 Anträge und verzögern so die Zulassungsverfahren. Was für die Industrie ein finanzielles Desaster sein kann, ist für die Behörde ein Imagegewinn. Pharmafirmen der europäischen Mitgliedstaaten reichen ihre Zulassungsanträge mit Vorliebe in Deutschland ein, wenn sie ein Produkt in mehreren Ländern auf den Markt bringen wollen. Lange Bearbeitung impliziert deutsche Gründlichkeit. Im Zeitraum Januar bis Juni 2011 hat das BfArM zehn Arzneimitteln die Zulassung verwehrt. Für die Industrie ein Millionenschaden, für den Patienten eine Lebensversicherung.
Über 5 Milliarden Euro lassen sich die forschenden Pharmaunternehmen den Fortschritt kosten. Die Zahl der 2010 beim BfArM registrierten oder zugelassenen Arzneimittel betrug 54.942. Schweden kommt hingegen mit 3.500 Arzneimitteln aus. So kritisieren Pharmakritiker und plädieren für eine Gesundschrumpfung des Arzneimittelarsenals. Derartige Statistiken sind jedoch lobbyistische Augenwischerei. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern werden in Deutschland bestimmte Heilwässer, Stärkungsmittel und andere Mittel gegen Alltagswehwehchen zu den Arzneimitteln gerechnet. Außerdem wird jede Dosierungsstärke und Darreichungsform bei der Zählung berücksichtigt. Erfasst man lediglich die Anzahl der verordneten Wirkstoffe bleiben nur etwa 2.500 mit knapp 10.000 Standardaggregaten übrig.
Langer Weg zur Marktreife
Die Aufarbeitung der Contergan-Katastrophe mündete in die Neuordnung des Arzneimittelgesetzes im Jahr 1976. Für die Pharmaindustrie ein Dorn im Auge: AMNOG, IQWIG und AT. Von etwa 5.000 isolierten chemischen Verbindungen durchläuft nur eine einzige Substanz erfolgreich die Phasen der klinischen Studien und erlangt Marktreife. Die Zulassung eines Arzneimittels ist mit einem enormen zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden. Die Entwicklung verschlingt nicht selten mehr als 500 Millionen Euro und es vergehen zehn Jahre oder mehr. Selbst bei Präparaten in Phase III der klinischen Entwicklung bleibt im Schnitt nur jedes zweite übrig. Der Verband forschender Pharmaunternehmen (vfa) fragt jedes Jahr bei seinen 43 Mitgliedsunternehmen an, welche Zulassungen in den nächsten Jahren anstehen. Die Prognose sieht gut aus: Bis Ende 2015 sollen gegen mehr als 130 Krankheiten neue Medikamente marktreif sein.
Im Fokus stehen besonders unterschiedliche Karzinomerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Osteoporose, Depressionen und Infektionen. Insgesamt laufen 359 Projekte. Nicht zuletzt wegen AMNOG muss aber die Pharmaindustrie Kosten sparen. Die in Forschung investierten Summen sind im Jahr 2010 zum Vorjahr mit 0,7 % leicht rückläufig. Pharmaunternehmen gehen vermehrt dazu über, vielversprechende Medikamentenkandidaten von kleineren Biotechnologieunternehmen einzulizenzieren.
Bei 65 Prozent dieser Projekte geht es um ein Medikament mit neuem, noch nicht zugelassenem Wirkstoff. Bei 19 Prozent handelt es sich um galenische Weiterentwicklungen oder neue Kombinationspartner. In 16 Prozent der Fälle geht es um Indikationserweiterungen. Insgesamt 82 Prozent aller Entwicklungsprojekte werden mit deutschen Kliniken zusammen durchgeführt.
Vigilanz als Damoklesschwert
Ist die Hürde der Zulassung genommen, und der Arzneistoff galenisch perfektioniert in den Apotheken angekommen, ist die Zukunft immer noch ungewiss. Nach der Prüfung ist vor der Prüfung. Seit Januar 2011 bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den Nutzen von neu zugelassenen Arzneimitteln. Dies geschieht auf der Grundlage von Dossiers, die die Pharmahersteller beim G-BA einreichen. Diese Dossiers werden u.a. vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bewertet. Dazu werden auch nicht veröffentlichte Studiendaten herangezogen. „Die Spreu vom Weizen trennen”, lautet der Titel einer Mitteilung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) zum AMNOG. Ziel soll es auch sein, „keine Mondpreise mehr zu zahlen“.
Pharmakovigilanz – die relativ neue Wortschöpfung ist für den Patienten ein pharmakologisches Auffangnetz. Für die Industrie hingegen ein Börsenverunsicherer. Ein Instrument ist das Spontanmeldesystem, dessen Meldequote allerdings sehr gering ist. Nach einer Schätzung der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) liegt sie weit unter 10 %. Dies ist umso bemerkenswerter, als dass Ärzte zur Meldung von UAW und auch Verdachtsfällen gesetzlich verpflichtet sind. Ein bedeutender Schritt zu (noch) mehr Patientensicherheit ist mehr Transparenz.
Studien ins Netz
In den USA sind Firmen seit Mitte 2009 per Gesetz verpflichtet, Zusammenfassungen von Ergebnissen aller neuen Studien in die öffentliche Datenbank clinicaltrials.gov einzustellen. „Wir brauchen in den USA wie in Europa eine gesetzliche Regelung, dass zumindest Fachgremien wie die AkdÄ Zugang zu den kompletten klinischen Daten erhalten“, fordert Prof. Dr. Ursula Gundert-Remy von der AkdÄ. Für mehr Vernetzung plädiert der Biometriker und Mathematiker Dr. Gerd Antes. Der Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums kritisiert, dass die medizinischen Ethikkommissionen in Deutschland nicht vernetzt sind und ihre Daten über Pharmastudien nicht austauschen. Die 53 medizinischen Ethikkommissionen wissen nicht, was die Nachbarkommission tut. "Wir wissen sehr gut, dass nur 50 Prozent aller begonnenen Studien publiziert werden und auch, dass die 50 Prozent bevorzugt diese gewünschten Ergebnisse zeigen", so Antes gegenüber dem TV-Sender 3sat. "Die, die nicht so gefallen, gehören zu den anderen 50 Prozent und bleiben damit in den Schubladen."
Thomas Kaiser vom Institut für Qualität im Gesundheitswesen schätzt, dass 60 Prozent der Studien nicht oder nicht richtig publiziert werden. Diese Skepsis lässt sich sogar noch weiter steigern: "Man kann fast sagen, dass bis zu 90 Prozent der Studien in irgendeiner Form manipuliert sind", vermutet der Wissenschaftler Wolfgang Becker-Brüser. Der Arzt und Apotheker ist Herausgeber des "Arznei-Telegramm" (AT). Der Pharmakritiker fordert, dass Arzneimittelhersteller verpflichtet werden sollen, die Ergebnisse aller klinischen Studien zu veröffentlichen. Seine Zeitschrift ist das mahnende Gewissen, Patientenanwalt und Industriegegner in Personalunion. Auch wenn das AT manchmal etwas über das Ziel hinausschießt ist die Polarisierung pharmakologisch sinnvoll.