Die Blut-Hirn-Schranke trennt den Körper von seiner Steuerzentrale und schützt das Gehirn. Einige Experten sind aber überzeugt, dass mentale Störungen auch auf Erfahrungen des Immunsystems mit Eindringlingen zurückgehen.
Selbst viele kundige Ärzte kennen PANDAS nur als possierliche, aber seltene Bambusbären. Die entsprechende Website „pandasnetwork.org“ klärt uns auf: Die Abkürzung steht für eine Autoimmunerkrankung nach Streptokokken-Infektion bei Kindern (Pediatric Autoimmune Illness associated with Streptococci). Zuweilen ganz aus heiterem Himmel verändert sich der Charakter des betroffenen Kindes. Launisch, ängstlich, unberechenbar und mit Zwangshandlungen, die sich ständig wiederholen.
Zwangsstörung nach Infektion
Häufiger begegnet Medizinern das „Rheumatische Fieber“, eine Entzündung verschiedener Organsysteme nach Streptokokken-Befall, die aber auf ganz ähnlichen Mechanismen beruht. In Deutschland leiden rund eine Million Betroffene an Zwangserkrankungen, zu denen auch das Tourette-Syndrom gehört. Vielfach haben Ärzte beobachtet, dass sich nach einer Infektion bei Kindern die Symptome solcher Zwangshandlungen oder Tics verschlimmern. Experten spekulieren inzwischen, dass eine Invasion von Mikroben sogar der Auslöser dafür sein könnte.
Der „New Scientist“ beschrieb von einiger Zeit den Fall eines zwölfjährigen amerikanischen Jungen, bei dem Ärzte erst nach zahlreichen Fehldiagnosen Streptokokken vom A-Typ als Auslöser eine grundlegenden Änderung seiner Persönlichkeit bemerkten. Er zog nur mehr Kleidung einer bestimmten Farbe an und schaltete nachts das Licht nicht mehr aus. Der Zwang zum Kratzen hatte inzwischen deutliche Spuren auf seiner Haut hinterlassen. Erst mit der Gabe von Antibiotika über eine Zeitdauer von vier Jahren ließen die Verhaltensauffälligkeiten nach. Inzwischen scheint er geheilt. Durch Penicillin heilen lässt sich auch die Chorea minor Sydenham, ebenfalls eine Fehlsteuerung der Motorik. Auslöser der Krankheit: Streptokokken.
Kreuzreagierende Antikörper im Gehirn
Was aber geht bei der Infektion vor sich? Wie entsteht die Sabotage der Steuerungszentrale? „Zu zeigen, wie Streptokokken zu Zwangsstörungen beim Menschen führen, scheint nahezu unmöglich“, erläutert Daphna Joel von der Universität Tel Aviv das Dilemma der Wissenschaftler, „fast jeder von uns, sogar kleine Kinder, kommen hin und wieder mit den Bakterien in Kontakt“ - ohne dass irgendetwas geschieht. Die israelische Gruppe scheint in Zusammenarbeit mit der Streptokokken-Spezialistin Margaret Cunningham von der Universität von Oklahoma mit ihren Ergebnissen etwas Licht ins Dunkel gebracht zu haben. Im Herbst letzten Jahres präsentierten sie Daten eines Rattenmodells. Nach der Infektion konnten sie Antikörper gegen die Bakterien im Gehirn nachweisen - und die banden an die Dopaminrezeptoren D1 und D2. Diese Bindung dürfte der Auslöser für Koordinationsprobleme und Zwangshandlungen auch bei den Nagetieren sein.
Ein Literatur-Review im „Journal of Child and Adolescent Psychopharmacology“ Ende 2010 beschreibt Ähnlichkeiten zwischen dem Tourette-Syndrom, Zwangsstörungen, Chorea minor und PANDAS. Alle diese Krankheiten beginnen in der Kindheit und betreffen ähnliche Gehirnstrukturen im Bereich der Basalganglien und verbundenen Regionen im Kortex und Thalamus.
Allen Anschein nach scheinen es kreuzreaktive Antikörper zu sein, die sich ursprünglich gegen die Mikroben gerichtet haben, dann aber im Gehirn auf Oberflächenproteine von neuronalen Zellen losgehen. Ob diese Antikörper jedoch Lücken in der Blut-Hirn-Schranke nützen oder gar über spezielle Kanäle ins Gewebe schlüpfen können, bleibt noch aufzuklären. Aus den Versuchen von Betty Diamond vom Feinstein Institute for Medical Research in New York geht hervor, dass Autoantikörper je nach Ursache des Lecks unterschiedliche Ziele im Gehirn ansteuern. Im Mausmodell für die Autoimmunstörung SLE banden Antikörper bei einer Entzündung im Hippocampus, bei einer Schädigung durch Stresshormone wie Adrenalin dagegen im Bereich der Amygdala. Die Bindung an NMDA-Rezeptoren ist jedoch fatal für die Nervenzellen. Der Tod von Neuronen führt damit zu abnehmender Gehirnleistung. Ob die Gabe von Immunglobulinen bei PANDAS-Kindern die kreuzreaktiven Antikörper abfangen und die Krankheit lindern kann, untersucht derzeit eine klinische Studie.
Zytokine lösen Depressionen aus
Dass Immunsystem und ZNS eng miteinander kommunizieren und abgestimmt handeln, zeigen nicht nur die typischen Krankheitssymptome von Müdigkeit und Appetitlosigkeit beim Schnupfen, sondern auch Ergebnisse der Arbeitsgruppe von Jonathan Kipnis im amerikanischen Virginia. Mäuse ohne T-Helferzellen haben deutlich messbare Schwächen bei Erinnerung und beim Lernen, die sich durch eine Injektion der fehlenden Immunzellen beheben lässt. Ein geschwächtes Abwehrsystem hängt auch mit verringerten Denkvermögen zusammen. Das demonstrieren die Beispiele von AIDS-Patienten oder Krebsleidenden mit Chemotherapie („Chemobrain“), deren Konzentrationsfähigkeit zuweilen deutlich unter den Durchschnitt sinkt.
Auch wenn bisher weder Neurologen noch Infektiologen eine direkte Verbindung zwischen Depressionen und dem Besuch unerwünschter Gäste aufdecken konnten, so weist die Statistik einen Zusammenhang mit Lyme-Borreliose (24-66% aller Betroffenen sind depressiv) auf. Messbar sind bei Depressiven erhöhte Spiegel an IL-6, TNF und CRP. In Mäusen lassen sich Depressionen durch Zytokingabe auslösen. Möglicherweise, so zeigt eine kleine Studie mit rund 250 Teilnehmern, hängt versuchter Suizid und eine Psychose (statistisch) mit einer Infektion mit Influenza B-Viren zusammen.
Charakterbildende Injektionen?
"Unser Immunsystem entwickelt sich entsprechend dem, welche Lebewesen es im Laufe unseres Lebens zu Gesicht bekommt. Es könnte so sein, dass für unser Gehirn das Gleiche gilt“, spekuliert Margaret Cunningham. Und Betty Diamond ergänzt: Wir haben riesige Mengen an Antikörper, auch wenn wir gesund sind. Ich bin mir sicher, dass einige davon unser Denkvermögen beeinflussen.“ Tatsächlich modulieren typische Oberflächen-Antigene von Abwehrzellen wie etwa MHC-Klasse-I Moleküle die Synapsenbildung bei Neuronen. Naomi Eisenberger aus Los Angeles hat am Computertomographen Hinweise dafür gesammelt, dass Zytokine, die das Immunsystem ausschickt, auch Charaktereigenschaften, wie „Mitgefühl“ beeinflussen.
Bereits in etlichen Fällen haben Antibiotika geholfen, wenn eine Infektion zu - zunächst - unerklärlichen Veränderungen bei Stimmung und mentalen Leistungen geführt hat. Ob es aber wünschenswert ist, mit einer Gabe von Zytokinen oder Antikörpern geistige Höchstleistungen anzustreben und am Ende einen Charakter nach Wunsch zu designen?