Wenn wir älter werden, nimmt unsere Muskelkraft ab. Warum das so ist, war bisher allerdings völlig unklar. Forscher wollen jetzt herausgefunden haben, was uns im Alter zu Strichmännchen macht. Und sie schlagen auch gleich eine helfende Pille vor.
Mit der Muskulatur im Alter ist das so eine Sache. Wenn die Jahre ins Land ziehen, bekommen unsere Muskeln das gleich doppelt zu spüren. Zum einen nimmt die Muskelmasse ab. Zum anderen verringert sich aber auch die Muskelkraft pro Muskelmasse. Als altersassoziierte Sarkopenie wird dieser deprimierende Vorgang oft bezeichnet. Ab etwa dem vierzigsten Lebensjahr ist der Prozess sichtbar und spürbar. Jenseits des 75. Lebensjahrs geht es dann immer schneller den Hang hinunter. Ohne weiteres verhindern lässt sich die Sache nicht: Nur wer eifrig trainiert, kann dem Muskelabbau innerhalb gewisser Grenzen entgegen wirken. Das ist aber umso schwieriger, je älter man wird.
Muskelschwund im Alter: Ist das Kalzium schuld?
Wissenschaftler um den Physiologen und Biophysiker Professor Andrew R. Marks, Leiter des Wu Center for Molecular Cardiology am New Yorker Columbia University Medical Center, haben jetzt in vielen Jahren Forschung einen Mechanismus identifiziert, der zumindest erklären kann, warum es im Alter überhaupt zu einem solch ausgeprägten Muskelschwund kommt. Seit den späten 80er Jahren beschäftigten sich Marks und sein Team mit so genannten Ryanodin-Rezeptoren. Das sind spezielle Kalziumkanäle, die in zahlreichen Geweben vorhanden sind. Wenn diese Kalziumkanäle zu viel Kalzium nach innen in die Zellen lassen, kommt es zu einer Reaktion der Mitochondrien. Die Zellkraftwerke produzieren freie Radikale, was wiederum den Kalziumkanal umso stärker offen hält. Defekte Ryanodin-Rezeptoren unterhalten also eine Art Teufelskreis, der für Muskelzellen besonders problematisch ist, weil diese unmittelbar auf ein ausreichendes Kalziumgefälle angewiesen sind.
Schon vor einigen Jahren hatten Marks und seine Kollegen entdeckt, dass eine Kalzium-Leckage der Ryanodin-Rezeptoren bei einer Erkrankung wie der Herzinsuffizienz und auch bei der Duchenne’schen Muskeldystrophie ein Wörtchen mitzureden hat. Da speziell die Muskeldystrophie gewisse Ähnlichkeiten mit der altersabhängigen Sarkopenie aufweist, formulierte Marks die Hypothese, dass die Ryanodin-Rezeptoren auch am Muskelschwund im Alter beteiligt sein könnten. „Das ist ein komplett neues Konzept“, betont der Wissenschaftler. Wenn es sich bewahrheitet, wäre der altersabhängige Muskelschwund quasi eine Art erworbene Muskeldystrophie.
Rennen wie blöd: Mäuse mit stabilem Ryanodinrezeptor
In seiner neuen, in der Zeitschrift Cell Metabolism publizierten Studie hat Marks gezeigt, dass der natürliche Alterungsprozess genau wie der Gendefekt bei der Duchenne’schen Muskeldystrophie zu einer Freisetzung von Sauerstoffradikalen führt, die den Ryanodinrezeptor schädigen. Die jetzt erhobenen Daten legten den Schluss nahe, dass bei alternden Mäusen ein Teufelskreis mit Kalziumleckage angestoßen werde, der jenen Prozessen ähnele, die auch bei der Duchenne-Erkrankung zu einem Absterben der Muskelzellen führten, so Marks.
Was Marks und seine Kollegen in der Studie auch untersucht haben, sind pharmakologische Therapien, die am Ryanodinrezeptor ansetzen und dort über eine Stabilisierung des Rezeptors den Kalziuminflux in die Zelle verringern. Insbesondere eine Substanz namens S107 hat dabei vielversprechende Resultate gezeigt. S107 ist ein Molekül, das Clastabin-1 stabilisiert, ein Eiweiß, welches an den Rynaodinrezeptor bindet und dadurch die Kalziumleckage bremst. In Marks Studie futterten die 24 Monate alten Mäuse – auf den Mensch umgerechnet wären das etwa siebzig Jahre – vier Wochen lang S107. Dieses „Menü“ verbesserte sowohl die Muskelkraft als auch die Belastungsfähigkeit im Vergleich zu unbehandelten Kontrollmäusen signifikant: „Die Mäuse rannten bei freiwilligen Belastungsübungen weiter und schneller. Und als wir ihre Muskeln untersuchten, waren die um etwa die Hälfte stärker“, betont Daniel C. Andersson, Erstautor der Veröffentlichung in Cell Metabolism. Noch interessanter: Bei jungen Mäusen mit normalen Ryanodinrezeptoren hatte die Therapie keinen Effekt.
Best Ager, aufgepasst!
Sollten sich diese Ergebnisse bestätigen und in ähnlicher Weise beim Menschen nachweisen lassen, wäre das Marks zufolge ein völlig neuer Therapieansatz für Muskelerkrankungen. „Die meisten Forscher sind bisher der Auffassung, dass der Aufbau von Muskelmasse der Königsweg ist, um die Muskelkraft zu verbessern“, so Marks. Ein Aufbau von Muskelmasse lässt sich unter anderem mit Testosteron, Wachstumshormon und Insulin-Like-Growth-Factor erreichen. Mehr Muskelmasse aber führt nicht zwangsläufig zu einer besseren Muskelfunktion.
Dass der neue Therapieansatz schon das Interesse der Industrie geweckt hat, wundert angesichts des potenziell riesigen Marktes nicht. Eine neue Klasse von oral applizierbaren Medikamenten, im Angloamerikanischen „Rycals“ genannt, setzt am Ryanodinrezeptor an und stabilisiert ihn, um den Kalziumstrom zu verringern. Erste Phase 2-Studien dazu laufen. Zu den Unternehmen, die hier aktiv sind, zählt Armgo Pharma, für das Marks als Berater tätig ist.