Ältere Menschen erhalten häufig Antidepressiva. Dabei fällt die Wahl immer öfter auf selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI), die als gut verträglich gelten. Diese Annahme ließ sich bei einer aktuellen Prüfung aber nicht wirklich bestätigen.
Depressionen bei älteren Menschen gelten hierzulande als unterdiagnostiziert und -therapiert. Dennoch steigt allgemein die Menge an verschriebenen Antidepressiva. Im Jahr 2009 wurden in Großbritannien insgesamt 39 Mio. Verschreibungen getätigt. Das entspricht einem Anstieg von 35 Prozent innerhalb von fünf Jahren. Immer beliebter unter den Stoffklassen sind SSRI, ihr Anstieg betrug 47 Prozent im Vergleich zu trizyklischen Antidepressiva mit nur 18 Prozent. Doch ihren guten Ruf aufgrund einer angenommen besseren Verträglichkeit bei Senioren können SSRI offenbar nicht verteidigen. Denn eine aktuelle Analyse im Rahmen einer Kohortenstudie zeigt, dass SSRI im Vergleich zu trizyklischen Antidepressiva bei über 64-Jährigen mit einem erhöhten Risiko schwerer Nebenwirkungen wie Stürze, Schlaganfälle, Epilepsie und Tod assoziiert sind.
SSRI: Keine Aufklärung in Fachinformationen
570 britische Allgemeinarztpraxen hatten der QResearch Datenbank Daten von 60.743 Patienten im Alter von 65 bis 100 Jahren mit neu diagnostizierter Episode einer Depression geliefert. Insgesamt war es fast 1.400.000 mal zur Verschreibung von Antidepressiva gekommen. 54,7 Prozent der Verschreibungen fielen dabei auf SSRI, 31,6 Prozent auf trizyklische Antidepressiva und 13,5 auf andere Stoffgruppen. Bei den verschriebenen SSRI nahmen Citalopram und Fluoxetin die ersten Plätze ein.
Unter SSRI ereigneten sich im direkten Vergleich zu Trizyklika signifikant häufiger Sterbefälle, Schlaganfälle und transiente ischämische Attacken, Stürze, Frakturen und epileptische Anfälle sowie Hyponatriämien. Keine Unterschiede ergaben sich für die Häufigkeit versuchter Suizide. Bekannt und in den Fachinformationen von SSRI erwähnt sind lediglich epileptische Anfälle und Hyponatriämien.
In der Gruppe der anderen Stoffgruppen, darunter Venlafaxin und Mirtazapin, ergab sich gegenüber trizyklischen Antidepressiva ein erhöhtes Sterberisiko, erhöhte Raten für versuchten Suizid, für Schlaganfälle, Frakturen und epileptische Anfälle.
Zur Veranschaulichung ein Vergleich des absoluten Sterberisikos innerhalb eines Jahres: Es beträgt 7,04 Prozent für depressive Patienten ohne antidepressive Behandlung, 8,12 Prozent für Patienten unter tyzyklischer Antidepressivabehandlung und 10,61 Prozent für jene mit SSRI-Therapie.
Keine handfesten Beweise aufgrund von älteren Studien
Es gibt wenige Studien speziell mit älteren Menschen zur Antidepressivabehandlung. Eine Metaanalyse der Cochrane Collaboration attestierte den SSRI bei Älteren im Jahr 2006 eine den Trizyklika gleichwertige Wirksamkeit, aber eine erhöhte Therapieabbruchrate unter klassischen trizyklischen Antidepressiva aufgrund der Nebenwirkungen. Andere frühere Studienanalysen, jedoch nicht vorzugsweise mit Älteren, belegten ebenfalls einen geringen bis moderaten Vorteil der SSRI gegenüber Trizyklika. Das National Institute for Health and Clinical Excellence (NICE) empfiehlt die Auswahl eines Antidepressivums natürlich unter Berücksichtigung der Nebenwirkungen und der Präferenz des Patienten, doch soll entsprechend der bisherigen Überzeugung normalerweise die Wahl auf SSRI fallen.
Gängige Praxis durch aktuelle Studie in Frage gestellt
Die aktuelle Untersuchung jedoch stellt die gängige Praxis und Empfehlung in Frage. Beeinflussen könnten die vorliegenden Ergebnisse den Autoren zufolge, dass Trizyklika in weitaus geringeren Dosen verschrieben wurden als SSRI, in der Mehrzahl der Fälle wurde nicht einmal die Hälfte der empfohlenen Dosis erreicht. Denn das Auftreten von Nebenwirkungen hing tendenziell mit der Dosis zusammen. Für die meisten der Ergebnismessungen ergaben sich die höchsten Risiken innerhalb der ersten vier Wochen nach Beginn der Behandlung und in den ersten vier Wochen nach Beendigung der Therapie.
Ursache und Wirkung lassen sich aufgrund des retrospektiven Designs dieser Beobachtungsstudie nicht wirklich klären. Unklar bleibt, ob die Nebenwirkungen tatsächlich den verschiedenen Stoffklassen zuzuschreiben sind oder ob es andere Faktoren wie etwa Multimorbidität oder andere Patientenfaktoren gibt, die Ärzte bevorzugt zu einem bestimmten Antidepressivum greifen lassen und die Multimorbidität oder andere Faktoren die eigentliche Ursache sind. Mögliche Zusammenhänge könnten weitere Studien klären. Nicht untersucht wurde darüberhinaus der potentielle Nutzen von Antidepressiva oder der Vergleich der Wirksamkeit verschiedener Stoffgruppen.
„Zwischen verschiedenen Antidepressiva gibt es signifikante Unterschiede hinsichtlich unerwünschter Wirkungen bei Älteren“, so die Autoren. „Es fanden sich keine Beweise dafür, dass SSRI oder andere Antidepressiva mit einem reduzierten Risiko für unerwünschte Wirkungen verbunden sind. Es ist sogar mit einer erhöhten Gefahr für einige Risiken zu rechnen“.