Den Mund weit aufzureißen und zu dehnen, ist bei höheren Lebewesen weit verbreitet. Was der Körper mit dem Zeichen bezweckt, ist unbekannt. Weder Verhaltens- noch Gehirnforscher konnten klären, ob Gähnen dem Körper nutzt oder nur als Signal dient.
Achtung! Die Chancen stehen gut, dass Sie während oder nach dem Lesen dieses Artikels den Mund herzhaft öffnen und gähnen. Hoffentlich nicht, weil Sie ihn todlangweilig fanden. Sondern, weil schon der Gedanke ans Gähnen oder das geschriebene Wort Anstoss genug ist, Mund und Rachen zu belüften.
500 mal in der Stunde
Dabei gibt es durchaus pathologische Formen, die dem Arzt in seiner Praxis begegnen. 1888 beschrieb der Pariser Arzt Jean-Martin Charcot den Fall einer jungen Frau, die es auf rund acht mal Gähnen pro Minute brachte, rund 500 mal Dehnen der Kiefermuskulatur in der Stunde. Mit dem heutigen Wissen und der damaligen Beschreibung des Arztes steckte hinter dem seltsamen Verhalten zusammen mit einem teilweisen Verlust von Geruchs- und Sehsinn ein Adenom der Hypophyse.
Es gibt wenige Reaktionen unseres Körpers, über deren Funktion so viel spekuliert wurde und über die zugleich so wenig gesicherte Erkenntnisse vorliegen wie über das Gähnen. Und es ist wohl nicht nur ein „Überbleibsel“ aus früheren Zeiten, das uns ungewollt dazu veranlasst. Gähnen scheint einen wichtigen Zweck in unserem Dasein zu erfüllen. Menschen mit „Locked-In-Syndrom“, die zu kaum einer anderen Bewegung fähig sind, können dennoch gähnen. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass dazu eine koordinierte Aktion verschiedenster Muskeln notwendig ist, bei denen der Nacken gestreckt, der Hypopharynx erweitert wird, und bei dem die Kiefermuskulatur Schwerstarbeit leisten muss. Der „normale“ Mensch gähnt rund eine viertel Million mal in seinem Leben, Föten im Mutterleib rund dreimal so häufig.
Gähnen zur Gehirnkühlung?
Vor gut einem Jahr kamen Experten in Paris zusammen, um ihre neuesten Erkenntnisse, aber auch neue Hypothesen zum Gähnen kundzutun. Dabei kam ein dicker Berichtsband heraus, den die Zeitschrift „Frontiers of Neurology and Neuroscience“ veröffentlichte. Einig waren sich die Gähn-Forscher jedoch nicht, was der Körper damit bezweckt. Schon gegen Ende des letzten Jahrhunderts widerlegte Robert Provine eindeutig, dass er sich damit mehr Sauerstoff zuführen könnte. „Rückblickend kann man kaum noch verstehen, wie sich dieser Glaube so weit durchsetzen konnte“, zitiert die FAZ Adrian Guggisberg von der Universität Genf, „denn selbst medizinische Laien verstehen sofort, dass ein einziger tiefer Atemzug die Sauerstoffversorgung des Hirns kaum beeinflusst.“ Jede körperliche Anstrengung wäre ansonsten mit andauerndem Gähnen verbunden. Anders als Kauen und Schlucken dient Gähnen auch nicht dem Druckausgleich. Heftig umstritten ist die These von Gordon und Andrew Gallup aus den USA. Sie sind fest davon überzeugt, dass der Strom kühler Aussenluft das heißgelaufene Gehirn kühlt.
Ihren Untersuchungen zufolge sinkt die Temperatur bei Ratten unter dem Schädel innerhalb einer halben Minute nach dem Gähnen um 0,2°C. Als Unterstützung ihrer These führen Vater und Sohn Gallup auch zahlreiche Krankheiten an, die mit mangelndem Temperaturausgleich zu tun haben. Migräne, Epilepsie und Schizophrenie sind alle mit atypischem Gähnen verbunden. Im März 2010 beschrieb eine Veröffentlichung eine Befragung von 60 Patienten mit Multipler Sklerose, die ebenfalls häufiger als normal gähnen. Jedes mal fühlten sie dabei, wie sich ihre Krankheitssymptome linderten.
Guggisberg und einige andere Kollegen halten wenig von der Theorie der Offenen-Mund-Kühlung. Intensive Nasenatmung sei dabei viel effektiver und schließlich wäre der Effekt nur kurzzeitig und, auf den Menschen angewandt, kaum messbar. Sicher ist, dass Gähnen meist, aber nicht immer mit Müdigkeit verbunden ist. Aber auch da beweisen zahlreiche Studien mit der Ableitung von Gehirnströmen, dass die gespreizten Kiefer die Aktivität des zentralen Nervensystems weder positiv noch negativ beeinflussen.
Hochgradig ansteckend
Schließlich bleibt noch der soziale Gähn-Effekt. Hier sind sich die Experten weitgehend einig, dass Gähnen ansteckend ist. Versuche an Affen zeigen, dass nach dem ersten Mundöffnen nur Minuten vergehen, bis es die Mehrzahl der Tiere dem Vorreiter nachtut, selbst dann, wenn sich die einzelnen Mitglieder der Herde weder sehen noch hören oder riechen können. Mehr als die Hälfte der Menschen kann ein Gähnen nicht unterdrücken, wenn sie jemand anderen sehen, der es ihnen vormacht. Das geht sogar über Artgrenzen hinweg: Wenn das Herrchen gähnt, tut es ihm sein Hund gleich. Die „Ansteckungsgefahr“ hängt dabei von der Fähigkeit zur Empathie, also dem Einfühlungsvermögen ab. Autisten und Kleinkinder sind in höherem Maß immun gegen gähnende Mitmenschen. Im Gehirn spielen Spiegelneuronen eine wichtige Rolle bei dieser Art von „Herdentrieb“.
Anstoß im Stammhirn
Ab der 12. Schwangerschaftswoche fängt der dann rund 50 Gramm schwere Fötus an, sich zu strecken und zu gähnen. Querschnittsgelähmte bewegen anders als beim Niesen oder Husten beim Gähnen die Arme. Zusammen mit CT-Aufnahmen deuten diese Erkenntnisse darauf hin, dass wohl das (entwicklungsgeschichtlich) „alte“ Stammhirn die Gähn-Steuerung übernimmt.
Löwen tun es genauso wie Vögel oder Fische, Einzelgänger wie Rudeltiere. Leitwölfe tun es öfter als Herdenmitglieder weit unten in der Hierarchie. Einig sind sich fast alle Rassen und Kulturkreise des Menschen, die Gähnen als ein Zeichen mangelnder Aufmerksamkeit für den Anderen missbilligen. Was aber trotz der ersten Welt-Gähn-Konferenz ungeklärt bleibt, ist: „Was will uns unser Körper damit sagen?“