Bei der Glasknochenkrankheit führen bereits kleinste Belastungen zu Frakturen. Schuld ist ein unheilbarer genetischer Defekt im Bindegewebe. Orthopäden versuchen mit pharmakologischen bzw. chirurgischen Behandlungsansätzen zu helfen.
Häufige Knochenbrüche bei Kindern können ein Hinweis auf die Glasknochenkrankheit, Osteogenesis imperfecta (OI), sein. Zusammen mit überdehnten Bändern, Kleinwüchsigkeit, Hypotonie, Problemen im Magen-Darm-Trakt, schlechtem Gehör im Erwachsenenalter sowie bläulich gefärbter Lederhaut des Auges ergibt sich ein charakteristisches Spektrum an Symptomen – mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Betroffen sind etwa vier bis sieben Menschen unter 100.000 Einwohnern, eine seltene Krankheit, an der vergleichsweise wenig geforscht wird. Mittlerweile verstehen Wissenschaftler dennoch einige der wichtigsten molekularen Vorgänge.
Ungut im Erbgut
Ausschlaggebend für die OI ist eine vererbte oder spontan entstandene genetische Störung der körpereigenen Kollagen-Synthese. Der Typ I dieses Eiweißes, Grundstoff aller Knochen, bildet in funktionsfähigem Zustand eine extrem feste Struktur aus: Drei linksgängige α-Helices lagern sich zu einer rechtsgängigen Superhelix zusammen, gut stabilisiert durch Wasserstoffbrückenbindungen. Kommt es jedoch zu einer Punktmutation im COL1A1- oder COL1A2-Gen, sprich dem Austausch der kleinsten Aminosäure Glycin gegen eine größere, ist es mit der Festigkeit vorbei. Schon das Auswechseln eines einzigen Bausteins führt laut Forschern am Massachusetts Institute of Technology, USA, zu einem kollagenartigen Protein, das nicht mehr die typische, dreidimensionale Struktur ausbildet, da große Seitenketten der falschen Aminosäure stören. Mit der mineralischen Komponente Hydroxylapatit kann dieses marode Eiweiß dann keinen festen Knochen mehr bilden.
Nächste Generation – nächste Erkenntnis
Zur weiteren Beschreibung des Defekts unterscheiden Humangenetiker sieben OI-Varianten, wobei der relativ milde, autosomal-dominante Typ I am häufigsten vorkommt. Andere Klassen des Leidens sind mit einer teils hohen Letalität verbunden, die Kinder sterben meist recht früh oder sogar pränatal.
Doch das menschliche Erbgut hat immer noch Überraschungen parat. Und so gelangen mit dem Next-Generation-Sequencing durch parallele Verfahren mit höchstem Durchsatz neue Einblicke: In einem einzigen Experiment konnte Privatdozent Dr. Christian Netzer von der Uni Köln zusammen mit Kooperationspartnern fast alle der etwa 25.000 menschlichen Gene von OI-Patienten mit gesunden Individuen vergleichen, anstatt sich Stück für Stück durch den molekularen Informationsspeicher zu wühlen. Aus tausenden von Abweichungen gegenüber entsprechenden Referenzsequenzen, größtenteils ohne Bedeutung für das Krankheitsbild, fand die Arbeitsgruppe mit Hilfe der Bioinformatik einen relevanten Abschnitt: SERPINF1. „Wir waren selbst überrascht, ausgerechnet ein Gen als ursächlich zu identifizieren, das man bislang vor allem mit der Hemmung von Gefäßneubildungen in Verbindung gebracht hat“, so Netzer. Es kodiert für den Pigmentepithel-derived factor (PEDF), ein Protein, das wegen dieser Eigenschaft sogar schon in klinischen Studien auf seine Eignung als Medikament untersucht wird. Auch scheint das Protein für die Entstehung von Typ-2-Diabetes mit verantwortlich zu sein. Durch die neuen Untersuchungen wird PEDF jetzt als mögliche Zielstruktur für OI-Therapien interessant – Zukunftsmusik in den Ohren vieler Patienten. Wachsende Nägel
Wesentlich konkreter sind da schon orthopädische Therapieansätze. In vielen Fällen raten Kollegen bei Frakturen zu einer konservativen Behandlung, etwa mit dem alt bekannten Gips. Um aber einen Knochen komplett zu schienen, haben sich seit Jahren so genannte mitwachsende Teleskopnägel nach Bailey und Dubow bewährt. Noch relativ neu in Deutschland ist hingegen das System von Fassier-Duval. Mit beiden Verfahren lassen sich selbst stark deformierte Gebeine nach einer Osteotomie wieder ins Lot bringen und stabilisieren. Beim späteren Längenwachstum dehnt sich der Nagel von selbst teleskopartig aus, er wächst quasi mit. Auch eine minimalinvasive Fixierung ist damit möglich geworden. Dennoch läuft es nicht immer ohne Komplikationen – hohen Kräfte im Knochen verbiegen gelegentlich die Implantate und blockieren den Teleskopmechanismus. Dann helfen nur noch Revisionseingriffe. Nach der OP kommt die Physiotherapie ins Spiel: Gestärkte Muskeln minimieren das Risiko weiterer Frakturen, die Patienten werden mobiler. Parallel dazu verschreiben Kollegen Bisphosphonate.
Ein Arzneistoff auf der Goldwaage
Bereits 1998 wiesen kanadische Forscher um Francis H. Glorieux nach, dass Bisphosphonate nicht nur die Knochendichte erhöhen. Vielmehr sank auch das Risiko neuer Knochenbrüche. In einer unkontrollierten Beobachtungsstudie mit 30 Kindern verabreichten die Wissenschaftler dazu Pamidronat. Die Gabe des Arzneistoffs führe, schreibt Glorieux, zu einer mittleren jährlichen Steigerung der Knochendichte von rund 42 Prozent, Frakturen verringerten sich um 1,7 pro Jahr. Jedoch hatte die Therapie keinen Einfluss auf deren Heilung, die Wachstumsgeschwindigkeit oder die Struktur der Wachstumsfugen. Mobilität und Gehfähigkeit verbesserten sich bei 16 Kindern. Alle jungen Patienten berichteten aber von deutlich weniger Schmerzen und Müdigkeit.
Neuere Daten werfen dennoch Zweifel auf – gibt es unter Bisphosphonaten wirklich weniger Brüche? Kanadische Forscher untersuchten dazu speziell Alendronat bei jungen Patienten mit OI. Sie riefen eine multizentrische, doppelblinde, randomisierte, placebo-kontrollierte Studie ins Leben: 139 Kinder im Alter von vier bis 19 Jahren erhielten zwei Jahre lang entweder Placebo oder Verum. Nach dieser Zeit erhöhte sich unter dem Pharmakon die Knochendichte signifikant um 51 Prozent im Vergleich zu 12 Prozent unter Placebo, was erst einmal nicht weiter erstaunt. Dennoch traten Frakturen in beiden Gruppen etwa gleich häufig auf, auch die Schmerzen sowie die körperliche Aktivität waren ähnlich. Zu anderen Ergebnissen wiederum kamen Kollegen am University Medical Center in Utrecht, Niederlande. Sie gingen der Frage nach, welchen Einfluss verschiedene Bisphosphonate auf die Zahl der nachfolgenden Eingriffe oder ambulanten Behandlungen haben. Dazu behandelten sie 118 Kinder mit diversen Vertretern aus der Medikamentengruppe. Die Studie konnte in der Folge eine signifikante Verringerung der OPs bzw. Arztbesuche durch die Pharmakotherapie belegen, indirekt auch ein Indiz für weniger Frakturen. Ob Bisphosphonate allerdings zu einer langsameren Heilung von Knochenbrüchen führen, wie Kollegen teilweise vermuten, ist auch heute noch umstritten. Aus dem Labor in den Knochen
Mittlerweile kommen neue therapeutische Ansätze aus der Hochschulforschung. Anna Spagnoli von der University of North Carolina, Chapel Hill, USA, untersuchte das therapeutische Potenzial adulter Stammzellen mit einer speziellen Maus, bei der Frakturen nicht heilen. Die Forscherin konnte Stammzellen aus dem Knochenmark im Labor so umkonstruieren, dass sie den Wachstumsfaktor IGF-1 (Insulin-like growth factor-I) herstellten. Damit behandelte Spagnoli die transgenen Tiere – und fand bei der computertomographischen Untersuchung, dass Knochenbrüche weitaus besser zusammen wuchsen als in der Kontrollgruppe. Ein Meilenstein, die Wissenschaftlerin rechnet bereits in wenigen Jahren mit der Erprobung am Patienten.
Forschung oder Bildung?
Doch mit Forschung allein wird es nicht getan sein. Die Allianz chronischer, seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V. kritisiert, es gebe dafür zu wenige Spezialisten in Deutschland. „Wenn Symptome nicht richtig eingeordnet werden können, hat das Folgen für die Diagnosestellung und Therapie“, sagt Dr. Christine Mundlos von ACHSE. Sie fordert, entsprechendes Wissen müsse stärker Einzug in die Weiter- und Fortbildung von Hausärzten halten.