Ältere Patienten – eine Herausforderung: Von diversen Ärzten überversorgt, ist so manche Klinikeinweisung einzig und allein auf Interaktionen zurückzuführen. Damit soll jetzt Schluss sein: Ein gemeinsames Modell von ABDA / KBV schweißt Arzt bzw. Apotheker noch fester zusammen. Einst auf die lange Bank geschoben, hat die Koalition plötzlich doch noch Interesse daran.
Gerade Senioren haben diversen Wehwehchen, besuchen mehrere Fachärzte und marschieren mit Rezeptstapeln in die Apotheke. Das hat Folgen: Laut ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände schlucken rund sieben Millionen Patienten regelmäßig fünf und mehr Medikamente. „Vor allem ältere oder mehrfach erkrankte Menschen sind von Polymedikation betroffen. Diese Patienten bekommen pro Jahr durchschnittlich 65 Arzneimittel verordnet, die Selbstmedikation ist dabei noch nicht erfasst“, so ABDA-Vize Friedemann Schmidt. Und Vertreter der gesetzlichen Kassen errechneten, dass Versicherte über 60 durchschnittlich 3,1 definierte Tagesdosen in Dauertherapie einnehmen. Dann sind Kollegen in der Apotheke gefordert, mögliche Interaktionen zu erkennen oder auch Präparate zu identifizieren, die aufgrund organischer Funktionsstörungen eben kontraindiziert sind. Kein leichtes Unterfangen, doch gibt es mittlerweile Hilfsmittel auf wissenschaftlicher Basis.
Altehrwürdige Arzneimittel
Mit der Priscus-Liste (priscus: lateinisch altehrwürdig) haben Wissenschaftler nach dem Vorbild der US-amerikanische Beers-Liste sowie ähnlicher Verzeichnisse aus Kanada und Frankreich ein Nachschlagewerk geschaffen, das Pharmaka für geriatrische Patienten bewertet. Experten stellten ausgehend von Fachpublikationen diverse Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen zusammen – immerhin 83 der 131 Arzneistoffe aus 18 Stoffklassen wurden als potenziell ungeeignet klassifiziert.
Ein Beispiel, wie das Verzeichnis funktioniert: Antihistaminika werden bei zahlreichen Leiden verschrieben. Vor allem Substanzen der ersten Generation stufen die Autoren hier als kritisch ein. Sie wirken aufgrund ihrer ZNS-Gängigkeit sedierend, führen zu einer verstärkten Tagesmüdigkeit und erhöhen die Sturzgefahr der Senioren. Viele dieser Medikamente zeigen anticholinerge Effekte und führen unter anderem zu einem trockenen Mund und zu Verstopfungen. Außerdem beobachteten Kollegen Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System sowie zentralnervöse Folgen bis hin zu Verwirrtheitszuständen oder Bewusstseinstrübungen.
Priscus rät…
Doch es gibt Alternativen: Die Priscus-Empfehlung lautet, bei allergischen Beschwerden etwa Cetirizin oder Loratadin zu verabreichen. Diese Arzneistoffe werden auch von betagten Patienten gut vertragen. Und gegen Übelkeit oder Erbrechen helfen erfahrungsgemäß Metoclopramid oder Domperidon, ohne einen allzu großen Schaden anzurichten. Sollten Schlafstörungen zu behandeln sein, Diphenhydramin oder Doxylamin sind tabu, lohnt es sich, pflanzliche Präparate wie hoch dosierte Baldrianpräparate in die engere Wahl zu ziehen. Oftmals hilft schlicht und ergreifend schon eine Veränderung des eigenen Verhaltes, wie Forscher am Sleep Medicine Institute der University of Pittsburgh School of Medicine, USA, herausfanden. Patienten, die eine Kurzzeit-Verhaltenstherapie inklusive Tipps zur Schlafhygiene bekamen, hatten gegenüber einer Vergleichsgruppe signifikant weniger Probleme mit der Nachtruhe. Reichen diese Maßnahmen nicht aus, können „Z-Substanzen“, also Zaleplon, Zopiclon oder Zolpidem, zum Einsatz kommen, allerdings maximal zehn Tage.
Antihistaminika sind auch häufig in Kombinationspräparaten gegen grippale Infekte zu finden. Hier stehen je nach vorherrschendem Symptom genügend OTCs mit nur einem Wirkstoff zur Verfügung, die sich auf den Organismus nicht nachteilig auswirken.
Allein das Alter macht die Dosis?
Arzneistoff geeignet, Menge fraglich? Laut Professor Dr. Bruno Müller-Oerlinghausen, Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie und emeritierter Hochschullehrer an der Freien Universität Berlin, ist das Risiko einer Krankenhausaufnahme wegen unerwünschter Wirkungen im Alter um das Sechsfache erhöht. Das kann viele Gründe haben: eine geringere Muskelmasse, weniger Körperwasser oder eine verlangsamte Ausscheidung über die Nieren. Bei verminderter Kreatinin-Clearance etwa muss die Dosis in Abhängigkeit von der Funktion dieses Organs angepasst werden. Und im Zweifelsfall rät Müller-Oerlinghausen zur Besonnenheit: „Start slow, go slow!“
Richtungswende für mehr Sicherheit
Doch was nützen diese Ratschläge, wenn Apotheker und Ärzte nicht am selben Strang ziehen? Besonders kritisch ist das bei geriatrischen Patienten: Je mehr Präparate verschrieben und als OTCs selbst erworben werden, desto höher ist das Risiko von Wechselwirkungen – gleichzeitig sinkt die Therapietreue. Das sollte eigentlich mit dem gemeinsamen Modell der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung besser werden. Vorgesehen war ein innovatives Medikationsmanagement inklusive Wirkstoffkatalog für alle relevanten Indikationen. Apotheker könnten daraus, so der Plan, ein Arzneimittel auswählen. Ärzte hingegen verschrieben nur noch Wirkstoffe, inklusive Dosis und Therapiedauer. Angedacht war auch eine gemeinsame Datenbank für Arzt und Apotheker, quasi nach dem mehr oder minder versandeten Modell der elektronischen Gesundheitskarte, allerdings auf freiwilliger Basis, und nur für Hausarzt und Hauapotheke. Das Konzept hatte Daniel Bahr kurz nach seinem Amtsantritt erst einmal auf Eis gelegt. Umso größer ist jetzt die Überraschung, dass dieses jetzt im Versorgungsgesetz verankert werden soll. Ein Änderungsantrag von CDU/CSU und FDP liegt mittlerweile auf dem Tisch, um Erprobungen auf regionaler Ebene Tür und Tor zu öffnen. Auch die Grünen sind mit im gesundheitspolitischen Boot. Und in Nordrhein stehen Vertreter der Ärzte- bzw. Apothekerkammer schon gemeinsam in den Startlöchern.
Viele Köche verderben die Therapie
Ganz so harmonisch geht es zwischen den Leistungserbringern nicht immer zu. Vor allem die Kommunikation zwischen den Gesundheitsberufen in Pflegeheimen gilt als eine der Herausforderungen: Probleme bereitet das – nicht immer zulässige – Teilen von Tabletten sowie deren Einnahmezeitpunkt und Dokumentation. Apotheken, einst zu Botendiensten degradiert, erweitern mittlerweile ihr Portfolio – weg von der reinen Belieferung, hin zur umfassenden Versorgung inklusive Medikationscheck, Schulungen und QMS-Themen. Eine Arbeit der Uni Münster lieferte dazu erste Resultate: Arzneimittelbezogene Probleme konnte durch pharmazeutische Betreuungsangebote deutlich gesenkt werden, und folglich verringerte sich auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen. Doch müssen sich diese Leistungen auch lohnen, und so fordern Apotheker ein Umdenken der verantwortlichen Politiker: weg von reinen Warenwerten, hin zu pharmazeutischen Dienstleistungen, die sich auch unter ökonomischen Gesichtspunkten schnell amortisieren.
Zwischen Unter- und Überversorgung
Dennoch hat die pharmazeutische und ärztliche Versorgung auch ihre Grenzen. Bruno Müller-Oerlinghausen etwa moniert, dass eine Priorisierung auf wirklich relevante Krankheitsbilder fehle – „nicht jedes Symptom bedarf einer Therapie“. Und nicht jedes Symptom deutet auf eine Krankheit hin – sondern vielleicht auf Nebenwirkungen, ausgelöst von einem der zahlreichen Arzneistoffe. Doch am Lebensende dann die Kehrtwende: Laut einer Studie zur „hospizlichen Begleitung und Palliativ-Care-Versorgung in Deutschland“ bräuchten rund 60 Prozent aller Sterbenden professionelle Begleitung, das sind 500.000 Menschen pro Jahr. Tatsächlich existieren Angebote aber nur für etwas mehr als 70.000 Patienten. Ein weiteres Manko: Nicht immer sind Opiate oder Opioide schnell zur Hand, um beispielsweise Durchbruchschmerzen zu lindern. Zwar hat der Bundesrat jetzt Hospizen und ambulanten Einrichtungen grünes Licht für hauseigene BTM-Notfalldepots gegeben. „Es fehlt jedoch für die direkt betroffenen 300.000 Patienten in rund 11.000 Pflegeheimen weiterhin eine gleichlautende Regelung, die eine unabhängige Bevorratung von hochwirksamen Schmerzmitteln für den Notfall ermöglicht“, sagt Eugen Brysch von der Deutschen Hospiz Stiftung. Überversorgt im Leben, unterversorgt im Sterben – dieses Spannungsfeld kritisieren immer mehr Experten.