Kunden jammern über steigende Kosten im Gesundheitssystem – warum nicht Arzneimittel länger verwenden, als durch das Verfallsdatum bestimmt? Dieser Ratschlag von Professor Dr. Gerd Glaeske sorgt für Gesprächsstoff, zahlreiche Pharmazeuten äußern Bedenken. Doch wenn schon nicht mehr einnehmen, wohin mit dem ganzen Pharma-Müll?
Zum wiederholten Mal thematisierte das Fernsehen Preisvergleiche zwischen Versandapotheken und öffentlichen Apotheken. Diesmal beschäftigte sich das Format „Akte 20.11“ (SAT.1) mit dem schon recht abgegriffenen Thema. Doch es kam zur Überraschung: Professor Dr. Gerd Glaeske, vom Sender als „Experte für Arzneimittel an der Uni Bremen“ vorgestellt, riet, das Verfallsdatum eines Präparats nicht allzu ernst zu nehmen. Kunden – die Rede ist von pharmazeutischen Laien – sollten „das Arzneimittel erst einmal anschauen, ob beispielsweise Tabletten bröseln, Dragees rissig sind und sich in Flüssigkeiten etwas absetzt“ und dann „vielleicht zurückhaltend“ sein. Ansonsten konstatierte Glaeske, ein Verfallsdatum bedeute nicht, dass von einem Tag auf den anderen ein Mittel nicht mehr wirke.
Zersetzt und zerbröselt
Aus wissenschaftlicher Sicht mag man sich über derartige Äußerungen wundern – lernen Pharmaziestudierende und PTA-Schüler schon früh in Arzneistoffanalytik, wie sich Pharmaka im Laufe der Zeit zersetzen können. Häufige Reaktionen sind Esterspaltungen, sicher nicht nur bei Acetylsalicylsäure oder Steroid-Estern relevant. Durch Licht hingegen zersetzen sich beispielsweise Riboflavin oder Nitrofurantoin. Und Tetracycline zerfallen unter Bildung toxischer Abbauprodukte. Fatal: Vor allem Anhydro-4-epi-tetracyclin erwies sich im Tierversuch als nephrotoxisch und löste ein so genanntes sekundäres Fanconi-Syndrom aus. Dabei werden Aminosäuren, Glucose und Phosphate kaum mehr resorbiert, und gelangen in den Harn. Doch sind dies nur einige Beispiele aus einer langen Liste möglicher Zersetzungsreaktionen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Apothekenkunden ihre Medikamente oftmals falsch lagern – das feuchte Badezimmer oder das überhitzte Handschuhfach im Auto sind keine Seltenheiten, von Sonnenlicht ganz zu schweigen.
Und so warnte Professor Dr. Theodor Dingermann von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, die Einnahme von Präparaten nach ihrem Verfallsdatum solle nicht verharmlost werden. Es sei schlichtweg falsch, Verfallsdaten als Empfehlung zu bewerten und nur bei äußerlich erkennbaren Qualitätsmängeln auf die Einnahme zu verzichten. „Die Angabe ist Teil der Zulassung des Arzneimittels, und sie basiert auf umfangreichen experimentellen Daten.“ Zweite-Wahl-Arzneimittel gebe es nicht und dürfe es auch nicht geben, so Dingermann.
Auch Juristen sind erstaunt bis entsetzt über Glaeskes Aussagen. So legt das Arzneimittelgesetz in § 8 („Verbote zum Schutz vor Täuschung“), Absatz 2, klar und deutlich fest, dass es verboten sei, „Arzneimittel in den Verkehr zu bringen, deren Verfalldatum abgelaufen ist“ – ein gefundenes Fressen für jeden Pseudocustomer, der entsprechende Fangfragen gestellt hätte. Dennoch sehen sich immer mehr Apotheker mit dem Problem konfrontiert, dass Kunden entsprechende Hinweise, abgelaufene Präparate nicht mehr einzunehmen, schlichtweg ignorierten. Das mag mitunter daran liegen, dass Gerd Glaeske seit Jahren von den Laienmedien hofiert wird, Theodor Dingermann sich hingegen eher in der Fachpresse zu Wort meldet.
Gut gemeint – schlecht angekommen
Allerdings spukt der Wunsch, Pharmaka auch nach Ablauf des Verfallsdatums weiter verwenden zu können, schon seit Jahren durch die Köpfe mancher Laien und Experten. Eifrige Sammler etwa versuchen immer wieder, Reste aus Deutschland in Krisengebiete zu befördern. Bei näherem Überlegen ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen, von der Qualität der Präparate ganz zu schweigen. Gerade Entwicklungsländer benötigen Präparate, die in Deutschland nur selten verschrieben werden, etwa gegen Tuberkulose oder Malaria. Antihypertonika oder Antidiabetika hingegen sind in vielen Brennpunkten des Weltgeschehens wertlos. Etliche Helfer müssten außerdem bereits im Vorfeld die Packungen sichten und ordnen. Auch fehlen Präparatenamen und Beipackzettel in der Landessprache – einheimische Ärzte können mit der gut gemeinten Lieferung vor Ort ohne Dolmetscher reichlich wenig anfangen. Das zeigte sich besonders drastisch während der Jugoslawienkriege: Laut „Apotheker ohne Grenzen“ e.V. waren Spenden zu 15 Prozent nicht verwendbar, und 30 Prozent wurden nicht benötigt. Dadurch sammelten sich allein in Mostar 340 Tonnen Arzneimittelmüll. So wird verständlich, warum diese Hilfsorganisation auch das Sammeln von Altarzneimitteln generell ablehnt. Hingegen erweist sich der Einsatz von Großpackungen oder Bulkware als vergleichsweise preisgünstig – die Anbieter garantieren vor allem eine gleich bleibende Qualität.
Fort und weg
Doch haben sich die Pillen erst einmal zersetzt – man erinnere sich, Tabletten bröseln, Dragees werden rissig und bei Flüssigkeiten setzt sich etwas ab, ist die Apotheke auf einmal wieder erste Anlaufstelle der Patienten. Dann nämlich rät sogar die Versandapotheken-affine Redaktion von „Akte 20.11“, Altarzneien vor Ort entsorgen zu lassen. Mittlerweile weigern sich aber etliche Kollegen, den Medikamentenmüll anzunehmen.
Das war nicht immer so: Noch bis Mitte 2009 hatten pharmazeutische Hersteller das Vfw-Abholsystem „Remedica“ finanziert. Die Recyclingfirma Vfw wiederum verwertete Kartonagen und entsorgte Arzneimittelreste. Seit Anpassung der Verpackungsverordnung ist es damit vorbei, konnten sich ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, Vfw und Arzneimittelfirmen nicht auf ein neues Modell verständigen. Auch weitere Versuche misslangen. Im Juni 2011 scheiterte eine Petition für ein Gesetz, das die Entsorgung alter Präparate ein für alle Mal klären sollte. Statt der nötigen 50.000 Unterschriften hatten gerade mal rund 1.100 Bürgerinnen und Bürger das Vorhaben unterstützt. Vorgesehen war, pharmazeutische Hersteller an den Entsorgungskosten zu beteiligen, um zu verhindern, dass Arzneistoffe in die Umwelt oder in die Hände von Unbefugten gelangen könnten. Dann hätten, wie bereits in anderen Branchen für Leuchtmittel oder Batterien etabliert, Apotheken alte Arzneimittel zurücknehmen müssen.
Ideen aus der Kommune
Momentan ist die Sachlage unverändert: Altmedikamente gehören laut Richtlinie über die ordnungsgemäße Entsorgung von Abfällen aus Einrichtungen des Gesundheitsdienstes als „Siedlungsabfall“ nach wie vor in die Restmülltonne – und werden auch dementsprechend entsorgt. Kritisch wird es vor allem, wenn Kinder mit den bunten Pillen spielen oder Drogensüchtige auf der Suche nach dem nächsten Kick in den Resten wühlen. Lediglich Zytostatika müssen als besonders überwachungsbedürftiger Abfall in geeigneten Verbrennungseinrichtungen unschädlich gemacht werden.
Kommunen haben sich dazu ihre eigenen Gedanken gemacht. In Leipzig etwa holt die Stadtreinigung entsprechende Tonnen kostenlos ab, der Service finanziert sich über die allgemeine Müllgebühr. Und Berlin hat spezielle „Medi-Tonnen“ entwickelt, absperrbare Mülltonnen, deren Inhalt direkt in einer Müllverbrennungsanlage landet. Teurer wird es für Apotheken in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt: Sie können Altmedikamente über die „abox“ entsorgen lassen, eine Kunststoffkiste, die rund 50 Liter fasst. Der private Großhändler Kehr sammelt entsprechende Gebinde ein und führt sie der geregelten Entsorgung zu – bei einem Preis von knapp zehn Euro pro „abox“. Immer mehr Packungen, die in der Tonne landen, stammen ursprünglich von Versandapotheken.