Unwichtiges lässt man gerne mal links liegen. Wenn man allerdings nicht anders kann und nur noch die Hälfte seiner Umwelt wahrnimmt, ist der Alltag ein verwirrendes und manchmal auch gefährliches Abenteuer.
Der Ehemann einer 62-jährigen Patientin hat seit einiger Zeit das Gefühl, seine Frau nehme ihn nicht mehr richtig wahr, wenn er links von ihr stehe. Er bringt sie ins Krankenhaus, wo man ihn bittet, sich auf die linke Seite seiner Frau zu stellen und sie anzusprechen. Der Ehemann spricht sie von links an, aber die Patientin schaut immer wieder nach rechts. Für sie kommt die Stimme ihren Mannes von rechts, sie wird von der Wand reflektiert. Die Patienten schaut sich nach rechts um, streckt ihren Arm aus, um den vermeintlich auf dieser Seite stehenden Mann zu erreichen. Die Patientin entwickelt daraufhin starke Ängste, da sie glaubt, verrückt zu sein. Woran sie aber wirklich leidet, ist das Neglect Syndrom.
Ursachen
Die Ursachen für das Neglect-Syndrom sind Schädigungen im Bereich zwischen Parietal-, Temporal- und Occipitallappen auf einer Gehirnhälfte. Auch subkortikale Läsionen im Putamen oder Nucleus caudatus der Basalganglien oder des Pulvinars im Thalamus können zum Neglect-Syndrom führen. In seltenen Fällen kann das Syndrom nach einer Frontalhirnläsion auftreten.
Symptome
Ein Patient mit Neglect-Syndrom übersieht Dinge, welche auf der gegenüberliegenden Seite der Läsion liegen. Ist also die rechte Hirnhälfte betroffen, wird die linke Seite des Patienten vernachlässigt.
Die Patienten haben es schwer, sich im Alltag zurechtzufinden und anzupassen, denn häufig stoßen sie gegen Hindernisse, die sie vorher nicht gesehen haben. Sie reagieren selten oder gar nicht, wenn sie von der kontraläsionären Seite her angesprochen oder berührt werden. Teilweise zeigen sie noch nicht einmal Reaktionen, wenn ihnen auf der gegenüberliegenden Körperhälfte starke Schmerzen zugefügt werden. Da der Neglect also in mehreren Modalitäten auftritt, z.B. visuell, auditiv und taktil, bezeichnet man das Neglect-Syndrom auch als multimodale Störung.
Beim Neglect handelt es sich um eine Aufmerksamkeitsstörung, denn der Patient schenkt dem eingeschränkten Bereich einfach keine Aufmerksamkeit. Wenn man ihn bittet, sich auf Gegenstände oder Objekte auf der vernachlässigten Seite zu konzentrieren, kann er diese vorübergehend wahrnehmen, er würde diese Handlung jedoch nicht von sich aus ausführen.
Ein Patient mit Neglect-Syndrom kann also normal sehen, hören und fühlen, jedoch nimmt er Reize von der eingeschränkten Seite einfach nicht wahr. Die Patienten richten ihren Blick normalerweise nur auf die Seite aus, auf der die Läsion liegt und schauen selten von sich aus auf die beeinträchtigte Seite. Dabei geht der Neglect häufig mit einer Anosognosie einher, das bedeutet, die Patienten sind sich ihrer Einschränkung nicht bewusst. Die meisten Patienten antworten daher oftmals, wenn man sie nach ihrer Wahrnehmung fragt, dass sie ihr gesamtes Gesichtsfeld ohne Einschränkung wahrnehmen können.
Das Neglect-Syndrom ist einem Gesichtsfeldausfall, der sogenannten Hemianopsie, sehr ähnlich und kann daher auch sehr leicht mit diesem verwechselt werden.
Krankheitsverlauf und Therapie
Der Neglect verbessert sich in 65% der Fälle spontan. Bei über 50 Prozent der Patienten mit Neglect-Syndrom ist nach mehr als 1 Jahr kein Neglect mehr nachweisbar. Bei den verbliebenen Patienten bleiben weiterhin deutliche Einschränkungen bestehen. Eine früh einsetzende Therapie kann das Syndrom abschwächen. Patienten mit einem linksseitigen Neglect erholen sich in der Regel schneller als Patienten mit einem rechtsseitigen Neglect.
Zur Behandlung des Neglects stehen mittlerweile verschiedene Verfahren zur Verfügung. Neben visuellem Explorationstraining werden eine Vibrationstherapie der Nackenmuskeln, Alertnesstraining, optokinetische Stimulation und eine Prismenadaptation angewandt.
Der früher häufige Ansatz, Patienten mit Neglect-Syndrom mit der gesunden Seite an eine Wand zu setzen oder dementsprechend die Patienten im Bett zu positionieren, damit sie gezwungen sind, sich auf die erkrankte Seite zu konzentrieren, wird heute nicht mehr angewandt. Es hat sich herausgestellt, dass zumindest schwer betroffenen Patienten die Konzentration auf die vernachlässigte Seite nicht gelingt und sie sehr darunter leiden, keine Objekte oder Personen wahrnehmen zu können. Viele Patienten, welche so ihre Angehörigen nicht wahrnehmen konnten, litten daraufhin unter schweren Depressionen, die den Verlauf der Erkrankung massiv beeinträchtigten.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Symptome des Neglects vorübergehend aufzuheben. Dabei hat es sich bewährt, die Aktivität in der geschädigten Hirnhälfte kurzzeitig zu erhöhen. So kann die Einschränkung durch den Neglect mit Hilfe von kalorischer Stimulation kurzzeitig, teilweise oder sogar vollständig aufgehoben werden. Bei der kalorischen Stimulation wird entweder warmes oder kaltes Wasser durch den Gehörgang im Ohr gespült. Diese Spülung des Gehörganges kann aber zu den Gegenanzeigen Nystagmus, massivem Schwindel bis hin zum Erbrechen und manchmal zu epileptischen Anfällen führen.
Fazit
Das Neglect-Syndrom ist eine sehr interessante neurologische Krankheit. Obwohl sie für viele Patienten große Schwierigkeiten im Alltag mit sich bringt, können vielen Patienten durch Therapien und spontane Besserung wieder geheilt werden.