Internetsucht ist mittlerweile als Störung akzeptiert, Cybersexsucht sucht man im ICD-10 hingegen vergeblich. Dabei leidet fast ein Drittel der Betroffenen unter Depressionen und ausgeprägten Angstzuständen. Therapiemöglichkeiten finden Betroffene häufig beim Verursacher der Sucht – dem Internet.
Die Psychologin und Sozialwissenschaftlerin Dr. Nicola Döring von der Technischen Universität (TU) Ilmenau schreibt Cybersex sowohl die exzessive Nutzung direkter computervermittelter Interaktionen zur sexuellen Erregung und Befriedigung als auch die problematische Nutzungsweise von Online-Erotika und –Pornografie zu. Nicht jeder der am PC Games spielt, ist süchtig, genauso wenig, wie das gelegentliche Nutzen von erotischen oder pornografischen Inhalten süchtig macht. Wenn aber der Alltag, Beruf und die Partnerschaft darunter leiden, liegt ein problematisches Verhalten vor.
Problem wird tabuisiert
In Deutschland sei von den drei Arten der Internetsucht eindeutig die Online-Sexsucht am stärksten ausgeprägt, davon ist Gabriele Farke, Onlinesucht-Beraterin und Initiatorin des Selbsthilfe-Portals Onlinesucht.de, überzeugt. Diese Variante ist in der Öffentlichkeit zwar immer noch ein Tabu-Thema, werde aber zunehmend auch als Problem ernst genommen. Meist sind die Süchtigen uneinsichtig, auch wenn sie täglich stundenlang online sind und Beziehung und Arbeit durch die zwanghafte Suche nach sexueller Stimulation gefährden. Die Gründe für Cybersex liegen auf der Hand: keine Ansteckungsgefahr, Frauen werden nicht stigmatisiert, Männer brauchen keine Performanceangst zu fürchten. Es entstehen illusorische Beziehungen zu anderen Usern.
Suchen macht süchtig
„Das Netz ist das Crack-Kokain der sexuellen Sucht“, so der Psychologe Al Cooper vom Zentrum für Eheleben und Sexualität der Universität in San Jose im US-Bundesstaat Kalifornien. In einer von ihm geleiteten Studie sind mindestens ein Prozent derjenigen, die Websites mit sexuellen Inhalten aufsuchen, süchtig. Der Wissenschafter wertete die Antworten von 7.000 männlichen Internetnutzern online aus. Cybersexsüchtige verbringen demnach im Schnitt 5,7 Stunden pro Woche auf Porno-Websites und in Sex-Chatrooms. Cooper stuft all jene als zwanghaft ein, die mehr als elf Stunden wöchentlich auf pornografischen Websites oder in entsprechenden Chaträumen verbringen. 20 Prozent der Männer und 12 Prozent der Frauen in der Cooper-Studie gehen auch am Arbeitsplatz ihrem Laster nach. Cooper beschreibt die Motive der Cybersexsüchtigen mit dem Begriff „The Triple A“. Access, affordability und anonymity sind Ursache für die Popularität der sexualbezogenen Angebote im Internet. Der PC wird von einigen Usern als erotischer Gegenstand betrachtet. Wie bei einem Pawlowschen Reflex suggeriert der Anblick des Rechners Wohlgefühl, Lust und Entspannung. Erst führt das Suchen nach erotischen Bildern und Filmen zum biochemischen Kick im Gehirn. Dopamin, Serotonin und Endorphine kitzeln das Belohnungssystem bis zur synaptischen Erschöpfung.
Cybersex kann depressiv machen
27 Prozent der intensiven Nutzer weisen eine mittlere bis schwere Depression auf. Rund 30 Prozent der Betroffenen leiden zudem unter ausgeprägten Angstzuständen und weitere 35 Prozent zeigen Stresssymptome, so eine Studie von Marcus Squirell von der Swinburne University of Technology in Australien. "Eine Internetflatrate ist für einen sexuell Süchtigen etwa so, als ob man einem Alkoholiker einen kostenlosen Bierzapfhahn in der Wohnung installiert", so Andreas Hill auf der Homepage der „Hilfe zur Selbsthilfe bei Onlinesucht. Der Psychiater ist Oberarzt am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie an der Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf.
Männer sind anfälliger
Auch die Stärke des Sexualtriebs spielt eine Rolle bei der Entstehung einer Cybersexsucht. „Dies trifft besonders auf Männer zu, die physiologisch in der Amygdala eher stark erregbar sind und gleichzeitig über wenige inhibitorische Mechanismen des präfrontalen Kortex verfügen“, so drückt das die Psychologin PD Dr. Christiane Eichenberger in ihrem druckfrisch erschienenen Beitrag in der Zeitschrift "Ärztliche Praxis Gynäkologie" aus.
Exzessiver Konsum von Internetpornografie, der sich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erstreckt und bei dem die Betroffenen klinisch bedeutsame biopsychosoziale Auswirkungen entwickeln, könnte als Paraphilie-verwandte Störung klassifiziert werden. Diese Einteilung schlägt die Psychologin Eichenberger vor. Nach ICD-10 können nicht-paraphile Formen im Rahmen der sexuellen Funktionsstörungen als „gesteigertes sexuelles Verlangen“ (ICD-10: F52.8) oder als „Störung der Impulskontrolle“ (ICD-10: F63.8) verstanden werden. Für die Novellierung des DSM-IV ist eine neue Kategorie für Verhaltenssüchte vorgesehen, die auch sexuell süchtiges Verhalten einschließen soll.
Diagnose per Fragebogen
Ein etabliertes diagnostische Instrument ist der „Internet Sex Screening Test“ (ISST). Der ISST erfasst u.a. Zwanghaftigkeit, sozialorientierte sexuelle Online-Aktivitäten, nicht-sozialorientierte sexuelle Online-Aktivitäten, sexualbezogene Internetnutzungsdauer, Interesse an sexuellen Online-Angeboten, sexualbezogene Internet-Aktivitäten außerhalb von Zuhause und Zugriff auf illegale, sexuelle Online-Angebote.
Hilfe.
Therapiemöglichkeiten finden Betroffene häufig beim Verursacher der Sucht – dem Internet. Zahlreiche Hilfeangebote, Tests und Selbsthilfegruppen sind meist erste Anlaufstelle. Die Hürde und die Scham, sich einem realen Arzt oder Psychologen anzuvertrauen, ist meist unüberwindbar.
Das Online-Angebot der „Hilfe zur Selbsthilfe für Onlinesüchtige und deren Angehörige“ gehört zu den seriösen Anbietern. Hier wird Information, Selbsthilfe und Beratung verknüpft. Onlinehilfe ist gleichzeitig aber auch eine polarisierende Therapie. Es ist so, als wenn man einen Alkoholabhängigen in der Kneipe therapiert. Meist ist der Lebenspartner mit betroffen und leidet unter der Situation. Es erscheint somit sinnvoll, ihn in die Therapie einzubeziehen. Gottfried Fischer beschreibt in seinem Buch „Kausale Psychotherapie; Manual zur ätiologieorientierten Behandlung psychotraumatischer und neurotischer Störungen“ einen multitherapeutischen Ansatz. Er berücksichtigt auch die Ursachen wie Trauma und Gewalt und macht diese Ursachen zum Therapieziel.
Cybersexsucht ist wie Alkoholismus, Drogensucht, Diabetes und Gicht eine Erkrankung. Es erscheint notwenig, eine Klassifizierung in die Systematiken der Diagnoseschlüssel zu implementieren und standardisierte Behandlungsschemata zu definieren. Dem Internet einfach den Stecker zu ziehen, reicht nicht.