Die Geheimratsecken treten immer deutlicher hervor – Zeit für viele Patienten, sich in der Apotheke beraten zu lassen. Sie leiden meist unter androgenetischer Alopezie, einer häufigen Form des Haarausfalls. Jetzt ist gute Beratung gefragt, Wundermittel halten nicht, was vollmundige Werbeslogans versprechen.
Typisch Frau – typisch Mann: Während bei „ihr“ das Haar ab dem Scheitel immer lichter wird, kommt es bei „ihm“ anfangs zu Geheimratsecken. Schließlich bildet sich auf dem männlichen Haupt eine Stirnhaarglatze und später über mehrere Zwischenschritte eine volle Stirnglatze. Nur die Bereiche rund um Nacken und den Hinterkopf bleiben bewaldet. Alopezie ist dabei keine Seltenheit: Rund jede zehnte Frau und jeder zweite Mann verliert über kurz oder lang Teile der Haarpracht, dementsprechend viele Patienten suchen Rat in Apotheken. Generell ist eine dermatologische Abklärung dennoch sinnvoll.
Ausgezupft
Kürzlich haben Wissenschaftler an der Charité Berlin sogar eine diagnostische S1-Leitlinie veröffentlicht. Diese sieht vor, durch Zupftests, Mikroskopie und Fotografie das angegriffene Haar zu untersuchen, um eine androgenetische Alozepie sicher von anderen Formen abzugrenzen. Umfangreiche labormedizinische oder gar endokrinologische Parameter gelten bei Erwachsenen angesichts der typischen Merkmale meist als überflüssig. So oder so ist diese Form des Haarausfalls streng genommen keine Krankheit im engeren Sinne, entsprechende Veränderungen belasten aber die Psyche vieler Patienten. Spätestens dann ist ein Behandlungsversuch sinnvoll, wobei von einer Dauertherapie die Rede ist. Mit Effekten kann trotz aller Ungeduld der Kunden erst nach Monaten gerechnet werden. Falsche Versprechungen helfen weder der Apotheke noch den Betroffenen, gute Beratung fördert hingegen die Compliance.
Enthemmte Enzyme
Hinter den Kulissen sind wie so oft die Gene mit dem Bauplan von Enzymen und Rezeptoren schuld am Haarausfall. Eine zu hohe Aktivität der 5-Alpha-Reduktase macht bei Männern aus Testosteron den Haarkiller Dihydrotestosteron (DHT). Zusätzlich sind die Haarwurzelzellen besonders empfindlich für diese Metaboliten – sie schrumpfen erst und sterben schließlich komplett ab. Welche Beteiligung Hormone am weiblichen Haarausfall haben, ist noch nicht abschließend geklärt. Hier scheint aber die Aktivität des Enzyms Aromatase vermindert zu sein, die ansonsten DHT bzw. Testosteron in Östrogene umwandelt.
Dermatologen verschreiben Männern oft das Pharmakon Finasterid, ein Hemmstoff der 5-Alpha-Reduktase. Regelmäßig eingenommen, sinkt daraufhin der DHT-Spiegel. Sinnvoll ist diese Behandlungsstrategie aber nur bei frühen Stadien des Haarausfalls und bei Patienten zwischen 18 und 41 Jahren. Geheimratsecken werden unter der Therapie nicht verschwinden, auch bei einer Glatze zeigt Finasterid keinen Effekt. Und setzen Patienten das Präparat wieder ab, löst sich ein möglicher Erfolg schnell in Luft auf. Ohnehin ist unter Experten die Evidenz des Wirkstoffs umstritten. Eine aktuelle Recherche in den Datenbanken MEDLINE, EMBASE, CINAHL, Cochrane Register und LILACS nach randomisierten, kontrollierte Studien, die Wirksamkeit und Sicherheit von Finasterid im Vergleich zu Placebo unter Beweis stellten, förderte nur zwölf geeignete Studien mit insgesamt 3.927 Männern zu Tage. Der Anteil der Patienten, bei denen sich der Haarwuchs verbesserte, war unter Finasterid zwar im Vergleich mit Placebo kurzfristig (64 Prozent) und langfristig (16 Prozent) erhöht, die Autoren sprechen aber nur von „moderater Evidenz“ und bemängeln die Qualität der Arbeiten. Auch mussten statistisch 3,4 bis 5,6 Patienten behandelt werden, um einen einzigen Therapieerfolg („number needed to treat“) zu erreichen.
Risiken wie eine erektile Dysfunktion erwiesen sich hingegen unter der niedrigen Dosierung, die bei Alopezie zum Zuge kommt, als unkritisch. Kürzlich warnte die US-Arzneibehörde FDA jedoch vor einer erhöhten Zahl von aggressiven Karzinomen unter Finasterid. Die Substanz wird zwar gegen Prostata-Tumoren eingesetzt, scheint hier aber nur bei günstigen histologischen Prognosen anzusprechen. Jetzt sollen Fachinformationen um einen entsprechenden Hinweis erweitert werden. Für Frauen ist Finasterid nicht zugelassen, doch untersuchen momentan einige Humangenetiker, ob der Wirkstoff Patientinnen mit bestimmten genetischen Defekten dennoch helfen könnte. Wegen der potenziellen Schädigung des Fetus wäre eine entsprechende Kontrazeption Pflicht.
Dein Minoxidil – mein Minoxidil
Weigern sich Patienten, die dermatologische Sprechstunde zu besuchen, bleibt als OTC für Frauen und Männern eigentlich nur der Versuch mit Minoxidil. Ursprünglich als Antihypertonikum entwickelt, erweitert das Pharmakon Kapillaren der Kopfhaut und steuert molekularbiologische Prozesse, um den Schrumpfungsprozess der Haarfollikel zu bremsen. Lokal erhöht sich die Konzentration des Vascular Endothelial Growth Factors, eines Botenstoffs, der kleine Blutgefäße sprießen lässt. Auch die Synthese von Prostaglandinen wird angekurbelt. In der Tat stoppt der Wirkstoff – je nach Studiendesign – bei bis zu 80 Prozent der Probanden den Haarausfall. Neue Haare bilden sich jedoch nur bei jeder zweiten Person, ein entscheidender Unterschied, vor allem bei spätem Therapiebeginn. Und zugesetztes Propylenglycol reizt außerdem die Kopfhaut. Forschergruppen untersuchen deshalb, ob sich der Transport des Minoxidils durch Liposomen verbessern lässt.
In den USA und in England ist mittlerweile auch ein Schaum, frei von diesem Lösungsvermittler, erhältlich. Bis 2012 erwarten Apotheker dessen Zulassung auch für Deutschland. Um Wirksamkeit und Sicherheit des Schaums nachzuweisen, führten Wissenschaftler eine doppelblinde, placebokontrollierte Studie mit fünfprozentigem Minoxidilschaum durch. Dabei erhielten 352 Männer zwischen 18 bis 49 Jahren, die nachweislich eine androgenetische Alopezie hatten, 16 Wochen lang Verum oder Placebo. Im Vergleich zum Ausgangswert ergab sich nach dieser Zeit ein statistisch signifikanter Anstieg der Zahl an Haaren sowie eine subjektive Einschätzung der Verbesserung. Auch hier sind Therapiepausen tabu, ansonsten ist ein möglicher Effekt schnell wieder dahin. Apotheker sollten ihre Patienten zudem informieren, dass es unter Minoxidil nach mehreren Wochen zu einem verstärkten Ausfall („Shedding“) bereits vorhandener Haare kommen kann, den viele der Geplanten als Nebenwirkung interpretieren und daraufhin das Mittel absetzen. Biologisch ist genau das Gegenteil der Fall: Nach einer Phase des Wachstums, das sind meist mehrere Jahre, gehen Haare automatisch in einen Ruhezustand über, bevor sie schließlich ausfallen. Neue Haarfollikel, vom Wirkstoff aktiviert, beschleunigen, dass die „ältere Generation“ nach außen geschoben wird, sprich ein gutes Zeichen für Regenerationsprozesse. Die unterschiedlichen Konzentrationen haben ihre Berechtigungen: Während bei Frauen zwei- oder fünfprozentiges Minoxidil zu ähnlichen erwünschten Effekten führen, kam es unter der niedrigeren Konzentration seltener zu einer Hypertrichose, also extremem Haarwuchs.
Pharmaka zum Haare raufen
Generell bietet der Markt aber noch etliche Substanzen mehr: Alfatradiol, strukturell mit dem Sexualhormon 17β-Estradiol verwandt, wird bisweilen zur topischen Anwendung empfohlen. Eine Vergleichsstudie der Charité Berlin kam hier zu einem vernichtenden Urteil: Während das bekannte Minoxidil, als zweiprozentige Lösung eingesetzt, zu einem signifikanten Anstieg der Haardichte führte, blieben diese Parameter auch nach sechsmonatiger Alfatradiol-Therapie unverändert. Und Cortigoide wie Prednisolon oder Flupredniden-21-acetat sind zwar hoch wirksam bei Entzündungen der Kopfhaut, bringen aber keine Verbesserung der Alopezie. Auch diverse Nahrungsergänzungsmittel von Aminosäuren über Selen bis hin zu B-Vitaminen oder Hefeextrakten helfen allenfalls über Placebo-Effekte.
Guter Rat – nicht immer teuer
Neben der Arzneitherapie können Patienten mit Haarausfall weitere – durchaus unangenehme – Ratschläge mit auf den Weg bekommen. Sie sollten vor allem auf den Glimmstängel verzichten. Rauchen verschlechtert die Mikrodurchblutung feinster Kapillaren in der Kopfhaut, was zum Tod der Haarwurzelzellen führen kann. Stress ist keinen Deut besser, zumindest im Tierversuch: US-Forscher züchteten transgene Mäuse, die verstärkt das Stresshormon CRF (Corticotropin Releasing Factor) ausschütteten – und das Fell lichtete sich. Stoppten sie die Wirkung des CRF durch einen geeigneten Hemmstoff, kurz Astressin-B, wuchs alles wieder nach. Das bedeutet, eine entsprechende Therapie stoppte nicht nur den Haarausfall, sondern macht diesen sogar rückgängig. Auch blieb der Effekt ohne weitere Gaben des Inhibitors für mehrere Monate erhalten.