Bei vorderen Knie-Schmerzen lautet die Diagnose oft retropatellares Schmerzsyndrom. Wird dann ein Knorpelschaden im Patellofemoralgelenk erkannt, ist guter Rat schwierig. Es gibt viele Therapien, aber keinen "Goldstandard".
„Die Bandbreite der Behandlung reicht von konservativen Maßnahmen über die Knorpelzelltransplantation bis hin zum endoprothetischen Ersatz“, schreiben Privatdozent Christian Lüring vom Universitätsklinikum Aachen und seine Kollegen in einer aktuellen Publikation. Aber bislang gebe es mangels ausreichender Belege im Sinne der Evidenz-basierten Medizin (EBM) noch immer keinen therapeutischen „Goldstandard“, so die Orthopäden. Mit ein Grund dafür ist vielleicht, dass das Patellofemoralgelenk lange Zeit ein Art „Stiefkind der Kniebehandlung“ war, wie vor drei Jahren der Schweizer Orthopäde Professor Roland Biedert von der Privatklinik Linde in Biel meinte.
Als das „vergessene Gelenk“ wurde es auch im Juli in einem Editorial der Fachzeitschrift „Osteoarthritis and Cartilage“ bezeichnet. Doch in „der letzten Zeit“ sei dieses Gelenk „zunehmend in den Blickpunkt gerückt“, erklärt Professor Joachim Grifka von der Orthopädischen Klinik der Universität Regensburg. Und das ist offensichtlich sehr berechtigt. Denn fast zehn Prozent der über 40-Jährigen sind laut Lüring von einer isolierten Femorpatellararthrose betroffen, vor allem Frauen. Bis zu 24 Prozent der Frauen mit retropatellarem Schmerzsyndrom hätten „ein pathomorphologisches Korrelat im Sinne einer retropatellaren Osteoarthrose“. Nach Implantation einer Knietotalendoprothese (TEP) klagen nach Angaben von Grifka und seinen Kollegen sogar bis zu 50 Prozent der Patienten über patellofemorale Schmerzen. Bei einer deutschlandweiten Umfrage an 506 orthopädisch-unfallchirurgischen Kliniken hätten von 194 antwortenden Ärzten knapp 55 Prozent patellofemorale Schmerzen als die häufigste Komplikation nach Knie-TEP bezeichnet.
Therapeutischer „Goldstandard“ fehlt
Aufgrund der erkannten Bedeutung des Schmerzsyndroms haben sich Lüring und seine Kollegen die wissenschaftliche Literatur zu konservativen und operativen Therapien genauer angeschaut, angefangen bei der Physiotherapie und intraartikulären Injektionstherapie bis hin zur Prothesen-Implantation. Das Fazit der Orthopäden ist recht ernüchternd: „Es gibt eine Vielzahl von Studien, diese sind jedoch in der Mehrzahl von geringer Qualität.“ Derzeit gebe es daher keinen therapeutischen „Goldstandard“, eine Meinung, der sich auch Grifkas Kollege Dr. Sven Anders anschließt: „Bei uneinheitlicher Datenlage kann ein Goldstandard der operativen Therapie aktuell nicht definiert werden.“ Ohnehin scheint es mit langfristig wirksamen Therapien gegen Knorpelschäden relativ düster auszusehen: So kamen auch der Schweizer Orthopäde Jan Philipp Benthien (Universität Basel) und sein Lübecker Kollege Peter Behrens kürzlich nach der Analyse von 133 Studien (über 6900 Patienten) zur Therapie von Knorpeldefekten im Kniegelenk zu dem Schluss: Es gibt keine Evidenz-basierten Therapiemethoden. „Trotz kausaler pharmakologischer Konzepte gibt es gegenwärtig keine Medikamente, die die Progredienz der Knorpelzerstörung aufhalten oder umkehren“, heißt es auch in einem aktuellen Beitrag im „Deutschen Ärzteblatt“.
Zu geringe „Evidenz“
Eine Physiotherapie zum Beispiel sei, so Lüring, zwar zu Beginn einer Behandlung sinnvoll, ebenso eine Aufklärung der Patienten, eventuell erhöhtes Körpergewicht zu reduzieren und die Kniestrecker zu kräftigen. Zwei dazu vorliegende Studien seien sogar relativ hochwertig - im Sinne der EBM - aber die Ergebnisse sprächen nur eingeschränkt für den Nutzen einer Physiotherapie. Eine dritte Studie wiederum komme zu dem Resultat, dass Taping „eine effektive Behandlung“ sei. Der „Evidenzgrad“ der Studie sei aber gering, so dass auch hier eine eher „schwache Empfehlung“ auszusprechen sei. Kaum besser schnitt die intraartikuläre Injektionstherapie mit Hyaluronsäurederivaten ab: „Die Datenlage zu dieser Behandlung in Hinblick auf die Arthrose des Patellofemoralgelenks“ ist laut Lüring dünn: Nur eine nicht-randomisierte Studie liege vor. Der Wert der Studie müsse daher „unter evidenzbasierten Kriterien ebenso wie die Empfehlung, diese Therapie anzuwenden, als gering angesehen“ werden.
Mit einem kompletten bikondylären Oberflächenersatz würden in Kombination mit einem Ersatz der Patella-Rückfläche zwar sehr gute Ergebnisse mit deutlicher Schmerzreduktion erzielt. Aber zum einen sei dies eine „Übertherapie“ und zum anderen klage postoperativ ein nicht „unerheblicher Anteil von Patienten“ über vordere Knieschmerzen. Auch diese Therapie, so Lüring, sei „unter evidenzbasierten Kriterien nur unzureichend abgesichert“. Wenig erfreulich sind übrigens auch die Ergebnisse zweier Untersuchungen zum Nutzen von Knie-Orthesen bzw. -Bandagen: Beide Studien zum „Patella-Bracing“, erschienen in der Juli-Ausgabe des Fachblatts „Osteoarthritis and Cartilage“, haben keinen Nutzen belegen können.
Statistik ist das eine, Praxis das andere
Im klinischen Alltag, sozusagen an der „Front“, sind solche überwiegend negativen Studien-Resultate nun aber keine wirklich zielführenden Hilfen. Kaum ein Patient wird sich mit der Information zufrieden geben, dass es für keine Therapie bislang Nutzenbelege aus randomisierten, kontrollierten, doppeltblinden 20-Jahres-Langzeitstudien gibt. Außerdem sind solche Studien auch in der Evidenz-basierten Medizin nur eine Quelle des Erkenntnisgewinns. Die ärztliche Erfahrung, manchmal als „Eminenz-basierte Medizin“ verschmäht, ist die andere Quelle. Und soll verhindert werden, dass ein Patient Hilfe durch jene Behandlungen sucht, die, wie Spötter formulieren, im Wesentlichen dadurch wirken, dass die Gelenk-Belastung nach Erleichterung des Patienten-eigenen Geldbeutels sinkt, dann muss man schon etwas mehr anbieten als Negativ-Botschaften.
Evidenz und Eminenz also hin oder her: Konsens ist auf jeden Fall, dass Patienten mit retropatellarem Schmerzsyndrom in der Regel zunächst konservativ behandelt werden sollten. Wobei selbstverständlich - so wie grundsätzlich in der Medizin - die genaue Ursache zu klären ist. Ist also die „Biomechanik“ gestört, liegt ein so genanntes Patellafehlgleiten vor, eine Beinfehlstellung, eine Instabilität mit Luxationsneigung oder gar eine neurologische Grunderkrankung? Eine „konsequent durchgeführte konservative Therapie“ könne bei patellofemoralem Schmerz „in 70–95 Prozent der Fälle zu einem vollständigen Rückgang der Symptome führen“, so der Orthopäde und Unfallchirurg Dr. Gerd Seitlinger vom Krankenhaus Oberndorf bei Salzburg. Und liege eine schmerzhafte patellofemorale Arthrose vor, dann gelte laut Seitlinger: „Die Therapieentscheidung richtet sich – wie bei der Instabilität – nach der Genese.“ Wobei das therapeutische Spektrum eben von nicht-medikamentösen über medikamentöse bis hin zu operativen Maßnahmen reicht.
Übrigens: Die Diagnose eines patellofemoralen Knorpelschadens bedeutet nicht zwangsläufig, dass dem Patienten sofort eine Therapie angetan werden muss. Denn häufig blieben patellofemorale Knorpelschäden asymptomatisch, erklärt Sven Anders.