Manchmal kommt es vor, dass bei der Geburt eines Kindes die Frage „Junge oder Mädchen?“ nicht eindeutig zu klären ist. Zwangsanpassungen gehören bei Intersexuellen glücklicherweise (meist) der Vergangenheit an.
„Genitalabschneider-Treffen - Termine 2011/2012“, „Hunde sind besser vor Verstümmelung und Kastration geschützt als Kinder“. Wer in der Blogosphäre nach dem Begriff „Intersexualität“ sucht, stößt auf diese Beschreibungen für pädiatrische Chirurgen oder Endokrinologen. Das Thema taugt aber nicht nur für die Parolen radikaler Gruppen im Bereich der „seltenen Krankheiten“, sondern hat es inzwischen in die höchsten Ebenen deutscher Politik geschafft. Im Sommer dieses Jahres befasste sich der deutsche Ethikrat mit einer Expertenanhörung zum Thema Intersexualität und der Geschichte von Menschen, die zwischen Mann und Frau leben. Einige Wochen davor brachten die Grünen im Bundestag einen Antrag ein, um auf amtlichen Formularen mehr als zwei Möglichkeiten der Geschlechterwahl zuzulassen und „dass das prophylaktische Entfernen und Verändern von Genitalorganen auch bei intersexuellen Kindern unterbleiben soll“.
„Dürfen zwischengeschlechtlich geborene Kinder medizinisch 'vereindeutigt' werden?“, lautete die Frage, die den Ethikrat beschäftigte. Auf rund drei- bis fünftausend Geburten in Deutschland kommt eine, bei der die Ärzte das äußere Geschlecht nicht anhand unverkennbarer Merkmale genau bestimmen können. Dabei heißen Zwitter, Hermaphroditen oder intersexuelle Menschen nun entsprechend der Konsensus Konferenz von 2005 in Chicago „Patienten mit gestörter Geschlechtsentwicklung“.
Ahnungslos in psychotherapeutischer Behandlung
Vielfach wissen die Betroffenen noch nicht einmal, was mit ihnen los ist. Zu vielen Psychotherapeuten kommen Menschen, die sich nicht mit ihrer Rolle als Mann oder Frau identifizieren können und nicht ahnen, dass ihre Probleme nicht nur im Kopf, sondern auch im Unterleib liegen. Denn allzu oft schnitten „wohlmeinende“ Ärzte an den Genitalien der Kleinkinder herum, ohne ihre Eingriffe zu dokumentieren. „Bloß kein Wort zum Kind“, war noch vor einigen Jahrzehnten die Devise. Allein durch die Erziehung könne - so die damalige Lehrmeinung - aus einem „Zwischenwesen“ eine richtige Frau oder ein Mann werden. Der Psychotherapeut steht dann vor dem Problem: „Wie sag ich‘s meinem Patienten?“ Die Gefahr, dass Intersexualität in die Tabuzone gerät, ist groß.
XY, weiblich
Nicht nur der Chromosomensatz, sondern auch zahlreiche Steuereinheiten für Hormone bestimmen über Bartwuchs oder Busen. Das macht es möglich, dass Humangenetiker trotz eindeutiger Geschlechtsorgane den nicht dazu passenden Gonosomensatz in den Zellen finden. Ein Beispiel dafür sind die „XY-Frauen“. Oft kommt das Problem erst später ans Tageslicht: Bei der Geburt scheint alles in Ordnung zu sein, erst in der Pubertät deutet Amenorrhoe, fehlende Pubesbehaarung und deutliche Virilisierung auf eine komplette Androgenresistenz hin.
Wenn aber schon bei der Geburt etwa eine partielle Androgenresistenz die Ärzte an der Frage „Bub oder Mädchen?“ verzweifeln lässt, wurde in der Vergangenheit des Öfteren einmal die zu große Klitoris beschnitten, Hoden oder Ovar entfernt. Entsprechend einem makabren Chirurgen-Spruch war es wohl „einfacher ein Loch zu graben als einen Mast aufzubauen“. So wurden die meisten „Zweifelsfälle“ dem weiblichen Geschlecht zugeschlagen. Nur langsam wurde klar, dass die Ärzte zwar dabei die Anatomie korrigierten, aber oft traumatisierte Menschen zurückließen - ohne Chance auf ein erfülltes Sexual- und Sozialleben.
Netzwerk Intersexualität
Immer noch stehen in den Leitlinien der Kinderchirurgie Sätze wie „Aus psychologischen Gründen sollte die kosmetische Korrektur der äußeren Genitale so früh wie möglich erfolgen, in der Regel innerhalb der ersten sechs Lebensmonate". Aber ob das Ziel einer „harmonischen Identität von genetischem, phänotypischem und soziokulturellem Geschlecht“ dabei immer erreicht wird? Erst der massive Protest von Selbsthilfegruppen änderte etwas am Prinzip der frühen irreversiblen Geschlechtsdetermination im OP.
Seit einigen Jahren setzen sich Ärzte und Betroffene zusammen und versuchen, Richtlinien zu entwickeln, die beiden Seiten helfen. Seit 2004 fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung das „Netzwerk Intersexualität“, das sich aus Bioethikern, Ärzten verschiedener Fachrichtungen, Geburtshelfern und Psychologen sowie Vertretern von Selbsthilfegruppen zusammensetzt.
Irreversible Eingriffe aufschieben
Am wichtigsten, so sind sich fast alle einig, ist eine intensive Diagnostik von intersexuellen Neugeborenen. Denn die Ursachen sind zu vielfältig, als dass einfache Ratschläge Arzt, Kind und Eltern wirklich weiterhelfen. Entscheidende Eingriffe in die Anatomie sollten, so eine Publikation des Arbeitskreises aus dem Jahr 2010, nach Möglichkeit aufgeschoben werden, bis das Kind die Möglichkeit hat, über seinen Körper mitzuentscheiden. Also bei größeren Operationen ab zwölf bis vierzehn Jahren. Über gute Erfahrungen mit einer Vaginalplastik erst in der Pubertät berichtet etwa Susanne Krege vom Alexianer Krankenhaus Maria Hilf in Krefeld.
Die Meinungen, wann der beste Zeitpunkt für grundlegende Entscheidungen ist, gehen aber immer noch weit auseinander. Vehement verteidigt etwa Martin Westenfelder vom Helios Klinikum in Krefeld die Kompetenz des Arztes bei der frühzeitigen Entscheidung gegen das „Unentschieden“. Heute, so seine Argumentation, würde im Gegensatz zu den Eingriffen vor zwanzig oder dreißig Jahren kaum mehr etwas „kaputt gemacht“.
Immer weiter hinausschieben bis zur Volljährigkeit lassen sich nicht alle geschlechtsbestimmenden medizinischen Maßnahmen. Kinder, die mit partieller Androgensensitivität geboren und als Mädchen aufgewachsen sind, sollten hormonsupprimierende Medikamente vor (!) der Pubertät bekommen, um eine Entwicklung Richtung Mann zu unterdrücken. Intersexuelle mit Androgenitalem Syndrom haben, unbehandelt, oft Probleme mit dem Größenwachstum und lebensgefährlichen Salzverlusten.
Selbstbestimmung über den eigenen Körper
In der Zusammenarbeit von Selbsthilfe, Ärzten und Psychologen kristallisieren sich immer deutlicher Prinzipien heraus, die das frühere “Operieren und entsprechend erziehen“ ablösen. Dabei gilt, dass das intersexuelle Kind kein medizinischer Notfall ist und ein Recht auf Selbstbestimmung hat. Eltern haben ein Recht auf die stellvertretende Entscheidung. Damit das Kind aber später selbst über seinen Körper bestimmen kann, müssen alle Eingriffe und Maßnahmen dokumentiert sein und sollten nicht geheim gehalten werden.
Auch wenn eine geschlechtsneutrale Erziehung kaum möglich ist, bedeutet ein nichteindeutiges Genital nicht automatisch eine Störung der psychischen und sexuellen Entwicklung. Wäre nicht ein Überdenken alter Moralvorstellungen eine Alternative zu traumatisierenden Operationen in der Kindheit? Wenn es nach den Plänen ihrer Regierung geht, müssen sich britische Staatsbürger bald nicht mehr zwischen „männlich“ oder „weiblich“ im Pass entscheiden. Eine Option, die etwa Australien bereits verwirklicht hat.
[Das verwendete Fotomaterial stammt von dem Künstler Nico Ferrando / Homepage: nicoferrando.com]