Avatare sind ferngesteuerte Computerwesen in der virtuellen Realität (VR), die oft in PC-Spielen eine Hauptrolle spielen. Doch auch mentale Störungen lassen sich mittels programmierter Umgebung und vorgespielter Handlungsabläufe erfolgreich behandeln.
„Und noch ein kleiner Schritt. Plötzlich stehe ich am Abgrund. Die Brücke über die Tiefe ist nur ein schmales Brett. Und darüber soll ich gehen? Eine Stimme neben mir sagt mir: Mach Dir keine Sorgen, es kann Dir nichts passieren! Soll ich das glauben?“ Die Stimme sagt die Wahrheit. Denn die erfundene Szene spielt sich nicht unter freiem Himmel, sondern im Behandlungszimmer des Therapeuten ab. Die Landschaft existiert nur auf dem Bildschirm eines Computers. Der Patient steuert die Bewegungen seines virtuellen Spiegelbilds mit einem Joystick.
Am Bildschirm Ängste und Essstörungen überwinden
Immer öfter greifen Psychotherapeuten bei der Behandlung von Phobien zur „Virtual Reality“. Die Erfahrung zeigt: Auch der Kampf gegen Höhenangst fällt leichter, wenn die Situation zwar real erscheint, das „Ich“ aber nur eine Figur auf dem Monitor ist. Erinnern Sie sich an „Second Life“? Immer noch loggen sich rund 50.000 Menschen wöchentlich in die virtuelle Web-Welt ein, als wäre sie Wirklichkeit. Und je tiefer die Spieler eintauchen, desto mehr verschwimmt die Grenze zwischen Bildschirm und Außenwelt. „Die starke und realitätsnahe Interaktion führt zu bleibenden psychologischen und Verhaltenseffekten auf ihre Nutzer, die auch im wirklichen Leben Bestand haben“, schreiben Jeremy Bailenson und seine Kollegen vom Virtual Human Interaction Lab (VHIL) an der Stanford Universität in einem Buchkapitel über „Avatare“.
Nicht nur Wirtschaft und Spiele-Entwickler beanspruchen die Spiegelwelt hinter der Tastatur für sich, sondern inzwischen auch die Medizin. Posttraumatische Belastungsstörungen, Schizophrenie, Depressionen, Raucherentwöhnung oder Essstörungen. Wer sich in sein virtuelles Abbild hineinversetzen kann, scheint bessere Chancen auf Linderung oder Heilung zu haben. Vier Millionen Dollar pro Jahr gibt das amerikanische Militär für traumatisierte Soldaten, aber auch für die Prävention durch vorgespielte Szenen aus. Wenn die kabel-gesteuerte Marionette ihrem Bediener ähnlich ist, dauert es nur wenige Minuten, bis sich die Spieler ganz in ihr Avatar hineinversetzen, so die Erkenntnisse des Stanford-Labors.
Mit „Avatare“ bezeichnet das Sanskrit die Hindu-Götter, die auf der Erde Menschengestalt annehmen. Im PC-Zeitalter auf den Bildschirm gebracht, sind sie nichts anderes als die Barbie-Puppe oder der Feuerwehrmann aus frühen Kindertagen, in die der (inzwischen erwachsene) Mensch schlüpft.
Karotten statt Schokolade
Wenn aber der Therapeut das Ebenbild des Schützlings mit kitzligen Situationen konfrontiert, macht sich der Patient ganz bewusst, wo seine „Schwachstellen“ liegen und wie er mit ihnen umgehen kann. Eine spanische Forschergruppe möchte etwa von Rauchern wissen, welche Schlüsselreize ihr Verlangen nach dem Glimmstängel auslösen und wie ihr Belohnungszentrum darauf reagiert. Die virtuelle Umgebung erlaubt es, unterschiedlich starke Herausforderungen einzustellen. Starke Reize steigern etwa das Verlangen in den ersten Minuten massiv, danach bleibt es konstant. Schwache Reize führen dagegen zu einer langsamen Steigerung, die erst aufhört, wenn der Reiz verschwindet.
Wer abnehmen will, kann sich entsprechenden Gefahrensituationen im Labor von Jesse Fox vom VHIL bewusst aussetzen. 2009 schickte sie rund 70 Studenten an einen virtuellen Esstisch, an dem Schokolade oder Gelbe Rüben „lockten“. Bei einigen Teilnehmern ließ die konsumierte Schokolade den Bauch des Avatars schwellen, das Gemüse führte dagegen zur Idealfigur. Wenn Frauen die Konsequenz ihrer Esssünden direkt miterlebten, griffen sie seltener zur braunen Verlockung als Teilnehmerinnen, deren virtuelles Essverhalten ohne Folgen blieb oder die auf die Computeranimation verzichteten. Die Überraschung in dieser Studie brachte der Vergleich mit den männlichen Kollegen: Trotz zunehmender Körperfülle aßen sie im Vergleich mehr Schokolade. Möglicherweise, so eine Spekulation der Autoren, hat die unterschiedliche Reaktion mit dem Essen in Gesellschaft anderer zu tun. Frauen halten beim gemeinsamen Essen eher Diät, Männer dagegen essen mehr. Wer jedoch regelmäßig mit sofort sichtbarer Konsequenz so mit den Folgen seines Tuns konfrontiert wird, so beweisen inzwischen etliche Untersuchungen, ändert seine Lebensgewohnheiten auch langfristig.
Menschen mit sozialer Phobie, denen es schwer fällt, sich ihrem Therapeuten gegenüber zu öffnen tun sich als Avatar im virtuellen Gespräch sehr viel leichter damit. Auch einen Blick in intime Bereiche, so die Ergebnisse einer Forschergruppe von der University of Southern California, lässt das Abbild leichter zu als der leibhaftige Patient auf der Couch. Bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse aus dem militärischen Einsatz ist die Erfolgsquote des computergestützten Therapie den bisherigen Standardverfahren überlegen. Eine Verschlechterung der Belastungsstörung fanden die amerikanischen Forscher bei Soldaten aus den Kriegen im Irak und Afghanistan bisher nicht.
Manipuliertes Selbstbewusstsein
Avatare in Computerspielen locken ihre Steuermänner und -frauen vor dem Bildschirm häufig mit perfekter Bikinifigur oder muskelgestähltem Körper. Dazu passen die Untersuchungen von Nick Yee zum „Proteus Effekt“: Wer bei der Simulation ein sehr gut aussehendes Avatar zugeteilt bekam, agierte nicht nur am Computer selbstbewusster als Probanden mit durchschnittlich attraktivem Abbild, sondern auch später in der Wirklichkeit. Überdurchschnittlich große Repräsentanten im Spiel waren eher zu unfairen Geschäften zum eigenen Vorteil bereit, kleinere akzeptierten Nachteile eher. Nur im Spiel? Zwei Jahre später nahm Yee seine Probanden erneut unter die Lupe. Die Studie hatte tatsächlich das Leben der Teilnehmer verändert und der Gruppe mit großem und attraktivem Avatar zu mehr Selbstbewusstsein und Behauptungswillen im Alltag verholfen.
Wer Menschen mit Technik so gezielt beeinflussen kann, der neigt zuweilen dazu, das auch kommerziell auszunutzen. Avatare mit einem Markennamen auf ihrem T-Shirt führen zu größerer Identifikation mit dem Produkt - besonders dann, wenn die Programmierer auch noch das passende Gesicht aus einem Foto des Spielers dazukonstruieren.
Verschwimmende Grenze zur Wirklichkeit
Das Spiel mit dem eigenen Abbild kann bei Traumapatienten schmerzhafte Erinnerungen überdecken, aber auch bei Kindern Computerbilder und -situationen zur Wirklichkeit werden lassen. Ein Versuch an Grundschülern zeigte, dass Erlebnisse aus der virtuellen Welt dann nicht mehr von jenen im wirklichen Leben auseinandergehalten werden. „Die Bilder“, so sagt Elizabeth Loftus von der University of California, „sickern wie ein trojanisches Pferd ins Gehirn ein, bei dem man die Veränderung noch nicht einmal bemerkt.“
Mit dem Fortschritt der Technik werden Avatare immer ausgefeilter. In Zusammenarbeit mit Webcams am Bildschirm könnte uns in der virtuellen Welt bald ein Zwilling oder Doppelgänger begegnen, der mit unserer Stimme spricht. Eine Befragung kanadischer Psychotherapeuten ergab, dass „Virtual Reality“ bei bestimmten Patienten die Hemmschwelle senkt und nach deren Ansicht den bisherigen Therapieoptionen überlegen ist. Gut möglich, dass wir in einigen Jahren psychische Probleme mit täglich einer halben Stunde Telemedizin am Schreibtisch bekämpfen - bevor wir unserem zweiten „Ich“ im zugeschalteten Werbespot begegnen.