Einige tausend Patienten in Deutschland werden Jahr für Jahr mit der Diagnose konfrontiert, unter Ihnen auch Apple-Mitbegründer Steve Jobs: Die Rede ist von neuroendokrinen Tumoren. Je nach Lokalisation können diese Chamäleons unter den Krebserkrankungen unterschiedlichste Symptome auslösen. Komplex sind auch die Behandlungsmöglichkeiten.
Jetzt ist es amtlich: Steve Jobs ist an den Folgen eines neuroendokrinen Bauchspeicheldrüsentumors verstorben. Statistisch gesehen trifft dieses Schicksal gerade einmal drei bis fünf von 100.000 Einwohnern. Kein Wunder, dass es angesichts der vielfältigen, teils unspezifischen Symptome zwischen fünf und sieben Jahre bis zur Diagnose dauert. Zum Vergleich: Die Inzidenz von Bronchialkarzinomen, einer häufigen Krebserkrankung, liegt bei 60 pro 100.000 Menschen.
Hormone außer Kontrolle
Neuroendokrine Tumoren (NET) haben viele Gesichter. Sie entwickeln sich aus Zellen, die Eigenschaften von Nerven aufweisen (neuro). Gleichzeitig verhalten sich viele NET auch wie Drüsen (endokrin). Meistens sind diese Tumoren im Magen-Darm-Trakt sowie in der Bauchspeicheldrüse aktiv, und zwar in jeder Hinsicht: Sobald von den Geschwülsten Hormone gebildet werden, das ist bei nahezu jedem zweiten NET der Fall, gerät der Stoffwechsel aus den Fugen. Insulinome etwa stellen große Mengen Insulin her und lassen den Blutzucker abstürzen, und Glucagonome produzieren Glucagon im Überschuss – es erhöht den Glucosespiegel. Gastrinome synthetisieren Gastrin, ein Peptid der Magenschleimhaut, und führen zum Zollinger-Ellison-Syndrom mit überschießender Magensäureproduktion. Hingegen verursachen „VIPome“, sie sondern ein vasoaktives intestinales Peptid (VIP) ab, das Verner-Morrison-Syndrom mit extremen Durchfällen und damit verbundenem massiven Kaliumverlust und gefährlicher Dehydratation. Im Mitteldarm kommen Karzinoide vor, die Serotonin-aktiv sind und zum Flush-Syndrom führen, einer plötzlichen Rötung im Gesicht. Auch sind sie für starke Durchfälle verantwortlich. Alles in allem eine komplexe Symptomatik, die nicht sofort auf eine Tumorerkrankung schließen lässt.
Verräterisches Somatostatin
Sind Endokrinologen einem NET auf der Spur, wird neben diversen Tumormarkern im Blut die Bildgebung immer wichtiger. „In der funktionellen Diagnostik nutzen wir aus, dass bis zu 90 Prozent der gastrointestinalen und bis zu 80 Prozent der pankreatischen NET Somatostatinrezeptoren exprimieren“, erklärt Privatdozentin Dr. Inga Buchmann vom Uniklinikum Schleswig-Holstein. Daran binden radioaktiv markierte Somatostatin-Analoga – und lassen sich via Szintigraphie oder Positronen-Emission-Tomographie (PET) nachweisen. Doch bringt eine empfindlichere Diagnostik noch weitere Aspekte mit sich: Seit den 1970er Jahren ist die Häufigkeit der Erkrankung scheinbar angestiegen. Professor Irvin M. Modlin von der Yale University, New Haven, USA, berichtet von einer Zunahme zwischen 700 und 1.000 Prozent innerhalb der letzten 30 Jahre. Kollegen führen das vor allem auf Verbesserungen rund um die Endoskopie und der Computertomographie zurück, mit denen sich heute bereits kleine Tumoren finden lassen.
Therapie im Netzwerk
Dann müssen alle an einem Strang ziehen: „Für eine optimale Betreuung ist die Zusammenarbeit verschiedener Fachärzte bei Diagnose und Therapie entscheidend“, sagt der Endokrinologe Privatdozent Dr. Berend Isermann von der Uniklinik Heidelberg. Empfohlen werden interdisziplinäre Therapiezentren, die beispielsweise das „Deutsche Register Neuroendokrine Tumore“ auflistet. Ist der Knoten mit bildgebenden Verfahren lokalisiert und durch eine Biopsie analysiert, wird an die Chirurgen übergeben: Falls möglich, versuchen sie, die Geschwulst komplett zu entfernen. Auch haben Onkologen mittlerweile diverse Chemotherapie-Protokolle entwickelt. Jetzt verlängern neue Therapiekonzepte die Lebenszeit der Patienten deutlich.
Trojaner im Tumor
Kollegen der Uniklinik Bonn fanden eine besondere Achillesverse: An der Oberfläche dieser Tumorzellen gibt es spezifische Bindungsstellen für das Eiweiß Somatostatin – eigentlich nichts Neues. Die Nuklearmediziner entwickelten spezielle „Trojaner“ mit Octreotid, einem künstliches Somatostatin-Analogon. Damit verknüpften sie radioaktives Lutetium-177. Nach Bindung des Octreotids an passende Rezeptoren gelangt der Betastrahler ins Zellinnere und entfaltet seine zerstörerische Wirkung: Beim Zerfall entstehen Elektronen mit vergleichsweise geringer Energie. Dr. Samer Ezziddin vom Uniklinikum Bonn: „Es strahlt nicht weiter als einen Millimeter.“ Entartete Zellen gehen zu Grunde, benachbarte Gewebe merken jedoch wenig. Diese so genannte Peptidrezeptor-Radionuklid-Therapie (PRRT) zeigte einer Studie zufolge vor allem bei Patienten mit niedrigen Werten des Tumormarkers Ki-67 gute Ergebnisse: Eine teilweise Remission in 40 Prozent der Fälle sowie ein geringfügiges Ansprechen bei 15 Prozent der Patienten. Und 34 Prozent blieben von einer Progression verschont.
Dennoch bleibt ein Problem: Ist die Erkrankung schon weit fortgeschritten, können bei Patienten auch Knochenmetastasen auftreten. „Dann haben sie eigentlich schlechte Überlebenschancen“, so Dr. Samer Ezziddin. Auch hier kann die Peptidrezeptor-Radionuklid-Therapie helfen. „Für die effektive Therapie von Knochenmetastasen gab es bisher mit der Methode noch keinen Nachweis“, sagt der Nuklearmediziner Professor Dr. Hans-Jürgen Biersack vom Uniklinikum Bonn. Zusammen mit kanadischen Kollegen hat er die PRRT an 42 Patienten mit Metastasen erprobt. Nach 32 Monaten das Resümee: zwei Fälle mit kompletter und 14 mit teilweiser Remission. Bei 16 der Behandelten konnte die weitere Ausbreitung der Tochtergeschwülste unterbunden werden. Vor allem, so die Kollegen, beeinträchtige ein schlechter Allgemeinzustand das Resultat nicht. Biersack: „Patienten mit Knochenmetastasen können die berechtigte Hoffnung haben, dass ihnen mit der PRRT effektiv geholfen werden kann.“ Als Nebenwirkungen beobachtete er in einigen Fällen leichte Übelkeit und Abgeschlagenheit, generell wurde die Behandlung aber gut vertragen. Dennoch seien größere Studien nötig, um besser vorhersagen zu können, welche Patienten auch wirklich von der Therapie profitierten.
Phalanx der Pharmaka
Auch die Arzneimittelforschung arbeiter an der Entwicklung neuer Therapien: NET zählen zu den gut durchbluteten Tumoren, und so zielen innovative Therapien darauf ab, die Bildung neuer Blutgefäße zu unterbinden. Vor allem auf das Wachstumssignal VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor) hat man es abgesehen – Antikörper wie Bevacizumab fangen dieses Eiweiß gezielt ab. Sorafenib oder Sunitinib hingegen fungieren als Hemmstoffe an einer Bindungsstelle von VEGF. Die Untersuchungen sind schon weit gediehen: Eine doppelblinde, placebokontrollierte Phase III-Studie mit Sunitinib zeigte signifikant bessere Werte beim progressionsfreien Überleben (12,6 Monate unter Verum gegenüber 5,8 Monaten unter Placebo). Für Bevacizumab liegen mittlerweile Daten einer Phase II-Studie in Kombination mit Sorafenib vor. Hier betrug das progressionsfreie Überleben 12,4 Monate. Aus der Immunsuppression kommt hingegen der Arzneistoff Everolimus. In Kombination mit Pasireotid, strukturell dem Somatostatin ähnlich, testeten Forscher den Arzneistoff in einer Phase I-Studie an 22 Patienten, wovon 19 profitierten: Die Erkrankung blieb im Beobachtungszeitraum progressionsfrei. Es geht also voran mit der Therapie.