Mit einer Studie zum Zusammenhang zwischen Twitter-Meldungen und Impfverhalten schlagen US-Wissenschaftler eine neue Seite im Buch der Public Health-Forschung auf. Die neue Disziplin der Twitterologie könnte unter anderem für Präventionskampagnen interessant werden.
Der englische Ausdruck „twitter“ wird üblicherweise mit „zwitschern“ übersetzt. Im Zusammenhang mit dem Onlineportal gleichen Namens treffender ist freilich die figurative Übersetzung des dazugehörigen Substantivs. Twitter, „groß“ geschrieben, heißt eben nicht nur (Vogel-)Gezwitscher, sondern wird im Englischen auch in jenem pejorativen Sinne benutzt, in dem im Deutschen das Wort Geschnatter verwendet wird.
Was also ist des Geschnatters Kern?
Wissenschaftler um Marcel Salathé vom Center for Infectious Disease Dynamics der Penn State University haben in einer für künftige Public Health-Forschungen wohl bahnbrechenden Arbeit das Geschnatter des Kurznachrichtendienstes Twitter als Rohmaterial für eine Art epidemiologische Studie verwendet, und zwar im großen Stil. Konkret ging es darum, heraus zu finden, wie im Twitter-Universum über eine Impfung, in diesem Fall die Schweinegrippeimpfung, kommuniziert wird. Schon diese „medizinische“ Twitter-Analyse war methodisch aufwändig genug. Über ein halbes Jahr lang, in der Hoch-Zeit der Grippepandemie, haben die Wissenschaftler insgesamt 477.000 Kurznachrichten von über 100.000 Twitter-Usern ausgewertet, die sie mit Hilfe von impfungsbezogenen Schlagworten in Echtzeit aus den Twitter-Nachrichtengewittern fischten.
Die Auswertung dieser identifizierten Nachrichten im Hinblick auf ihre inhaltliche Tendenz erfolgte dann automatisiert. Nur einen Bruchteil der Nachrichten haben die Wissenschaftler selbst ausgewertet und als entweder positiv („pro Impfung“), negativ („impfkritisch“) oder neutral beziehungsweise als irrelevant im Zusammenhang mit der Influenza A(H1N1) klassifiziert. Basierend auf diesen Referenz-Tweets haben die Forscher dann maschinell einen Algorithmus solange „trainiert“, bis er die Referenz-Tweets hinreichend genau zuordnen konnte. Der auf diese Weise optimierte Algorithmus wurde schließlich auf die mehreren hunderttausend übrigen Tweets losgelassen und sortierte sie automatisch in die vordefinierten Container. Aus der Verteilung der Tweets auf die unterschiedlichen Töpfe ließ sich ein „Stimmungsbarometer“ bilden. So erhielten die Wissenschaftler zeitlich und räumlich zuordenbare Scores zur Haltung der twitternden Bevölkerung gegenüber der Schweingrippeimpfung in den USA.
Twitter-Meldungen spiegeln die reale Welt
Nach diesen Vorarbeiten begann die eigentlich interessante Analytik, über die in der Online-Zeitschrift PLoS Computational Biology berichtet wird. Zum einen korrelierten Salathé und seine Mitarbeiter die erhobenen Scores mit den von den US-amerikanischen Centers for Disease Control zur Verfügung gestellten regionalen Impfraten. Das ging deswegen, weil viele Twitter-User in ihrem Profil die Lokalisierung gestatten – es ist ja einer der Reize von Twitter, den anderen beziehungsweise den Followern in Echtzeit mitteilen zu können, wo man gerade ist und was man gerade tut.
Bei dieser Analyse stellte Salathé dann fest, dass der über Twitter ermittelte Impfscore relativ gut mit den tatsächlichen Durchimpfungsraten in der jeweiligen Region korrelierte. So gab es in der Provinz Neu-England einen in Bezug auf die Schweinegrippeimpfung relativ positiven Twitter-Score. Gleichzeitig waren die Impfraten dort überdurchschnittlich. „Diese Daten könnte man strategisch nutzen, beispielsweise für Public-Health-Kampagnen“, betont Salathé. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Präventionskampagnen oft nicht die eigentliche Zielgruppe erreichen. Über Twitter können Impfskeptiker zwar auch nicht direkt adressiert werden. Aber es ergeben sich zumindest Hinweise, welche regionalen Schwerpunkte lohnend sein könnten.
Die Clique gibt die Richtung vor
In einem weiteren Schritt hat Salathé dann aus den „Verbindungen“ der unterschiedlichen Twitter-User eine Art Landkarte erstellt und dieses Netzwerk dahingehend analysiert, wie sich die unterschiedlichen Haltungen zur Impfung in der Vernetzung spiegeln und ob und wo es zum Beispiel Überschneidungen zwischen Gruppen unterschiedlicher Haltung gibt. Hier konnte Salathé etwas bestätigen, das vielen Internetbeobachtern in anderen Kontexten auch schon aufgefallen ist. Das ach so freie Internet führt in der Praxis vor allem dazu, dass sich Menschen mit den gleichen „Vorurteilen“ oder „Denkstilen“ zusammenfinden. Es ist weniger öffentlicher Marktplatz als eine der Selbstbestätigung dienende Echokammer. Beim Thema Impfen ließ sich das geradezu paradigmatisch nachweisen: Überschneidungen zwischen den sozialen Twitter-Universen der „Impffreunde“ und „Impfkritiker“ gab es kaum.