Weniger ist mehr – eine alte Weisheit, auch für Apotheker und Ärzte: Vor allem bei älteren Patienten kann die gleichzeitige Verordnung etlicher Präparate schnell kritisch werden. Jetzt ergriff ein israelischer Facharzt zu radikalen Maßnahmen – mit Erfolg. Seine Erkenntnis: Senioren können nahezu jedes zweite Arzneimittel streichen.
Herr B., seit langen Jahren Patient bei Dr. Doron Garfinkel, Internist und Geriater am Shoham Geriatric Medical Center in Israel, litt mit seinen 72 Jahren unter zahlreichen Leiden. Er musste wegen beginnenden Nierenversagens regelmäßig zur Dialyse, und zu allem Unglück kam noch eine Alzheimer-Demenz mit hinzu. Kein Wunder, dass Herr B. zehn Präparate in Dauertherapie einnahm – zu viel, wie Garfinkel feststellte. Er analysierte die Medikation und strich sechs Arzneimittel. Der Patient wurde dabei lückenlos überwacht, und nach zwei Wochen kam die Überraschung: Garfinkel beobachtete dramatische Verbesserungen des Gesundheitszustands, vor allem schnellten Herrn B.s kognitive Fähigkeiten in die Höhe – auf einen Normalwert. Er war wieder in der Lage, sein Leben selbstbestimmt zu gestalten, und unterzog sich zwölf Monate später sogar einer Nierentransplantation.
Die „Garfinkel-Methode“
In den letzten Jahren hat der israelische Geriater sein Vorgehen weiter professionalisiert und Ärzten beziehungsweise Apothekern nahe gebracht, Stichwort pharmazeutische Versorgung. Neben wissenschaftlichen Kriterien legt er vor allem Wert auf den Dialog mit Patienten und deren Angehörigen – letztlich ein Faktor, um Akzeptanz zu schaffen und die Therapietreue zu erhöhen – sprich sinnvolle Medikamente dennoch konsequent einzunehmen. Das Modell beinhaltet mehrere Treffen, Garfinkel erklärt Nutzen und Risiken eines jeden Arzneimittels. Obsolete, nicht lebenswichtige Präparate setzt er für eine „Probezeit“ von drei Monaten ab – und überwacht den Zustand des Patienten derweil besonders gründlich.
Neue Gesundheit für alte Menschen
Doch Doron Garfinkel wollte es genauer wissen. Er rief eine Studie mit 70 Patienten ins Leben, durchschnittliches Alter: knapp 83 Jahre. Seine Analyse zeigte, dass 61 Prozent von ihnen mindestens drei Erkrankungen hatten, bei 26 Prozent waren es sogar fünf oder mehr Leiden. Alle Teilnehmer bekamen im Schnitt knapp acht Präparate in Dauertherapie. Bei 64 Patienten war es problemlos möglich, die Zahl der Arzneimittel zu halbieren, insgesamt standen 311 Medikamente auf der Abschussliste. Diesem Rat folgten immerhin 80 Prozent der Betroffenen. Nach 19 Monaten dann ein viel versprechendes Ergebnis: 88 Prozent der Patienten berichteten von einer deutlichen Verbesserung der Gesundheit, nur in zwei Prozent der Fälle musste eine gestrichene Arzneimitteltherapie wieder aufgenommen werden.
Garfinkels Fazit: „Es ist also durchaus möglich, die medikamentöse Belastung bei älteren Patienten zu verringern.“ Oftmals ließe sich die Zahl der verordneten Präparate sogar halbieren. Weitere Forschungen zeigten, dass speziell bei Patienten in Langzeitpflege teilweise sogar neun von zehn Medikamenten überflüssig waren. „Hier ist weniger einfach mehr“, kam es durch die Arbeiten des Arztes zu einer deutliche Reduzierung der Mortalität, Morbidität und arzneimittelbedingten Krankenhauseinweisungen.
Deutsche Geriater arbeiten an ähnlichen Themen. Und so stellte Stephanie Kossow von der Uni Freiburg beim Jahreskongress für Allgemeinmedizin und Familienmedizin weitere Daten vor: Bei der PUMA-Studie („Potenziell unangemessene Medikamente im Alter“) werteten Forscher 549 Daten von 26 Hausarztpraxen aus. Je nach Kriterienkatalog erhielten hier 31 bis 44 Prozent der Behandelten inadäquate Arzneimittel, vor allem bei Hypertonie (57 Prozent), Demenz (55 Prozent) und psychiatrischen Leiden (45 Prozent). Als Maßstab hat sich hier zu Lande mittlerweile ein spezielles Verzeichnis etabliert.
Arzneimittel für altehrwürdige Patienten
Im Jahr 2010 veröffentlichte eine Arbeitsgruppe um Stefanie Holt, klinische Pharmakologin an der Universität Witten/Herdecke, die Priscus-Liste: eine Aufstellung mit 83 Arzneistoffen, allesamt ungeeignet für Senioren. NSAIDs, Antiarrhytmika, Antibiotika, Antikoagulantien, Antidepressiva, Antihypertensiva, Neuroleptika, Laxantien, Muskelrelaxantien und Sedativa beziehungsweise Hypnotika werden unter die Lupe genommen. Doch nicht nur inadäquate Pharmaka listet das Verzeichnis auf – vielmehr zeigen die Autoren therapeutische Alternativen auf. Vorbildfunktion für diese Zusammenstellung hatte die US-amerikanische Beers-Liste, eine für Deutschland nur bedingt taugliche Zusammenstellung.
Bekanntlich ist der Weg in die Praxis entsprechender Daten in die Praxis weit: Forscher nahmen jetzt die Medikation von 549 Bewohnern diverser Altenheime in Süddeutschland unter die Lupe. Erschreckend: Immer noch erhielten 222 Patienten in Summe 291 ungeeignete Präparate. Bei 45 Prozent war es eine potenziell inadäquate Medikation, bei 20 Prozent fanden Wissenschaftler zwei und bei fünf Prozent drei oder mehr Verstöße gegen die Priscus-Liste.
Allein mit der Auswahl von Arzneistoffen ist es nicht getan, auch die Dosierung sollte in etlichen Fällen überdacht werden. Unter dem Slogan „less is more“ raten Kollegen, tendenziell mit 30 bis 75 Prozent des Werts für Erwachsene zu beginnen und die Menge gegebenenfalls peu à peu zu steigern – allein schon wegen der Nierenfiltrationsleistung: Bei vielen betagten Menschen verschlechtert sich die renale Ausscheidung aufgrund von Nierenfunktionsstörungen, außerdem nehmen Senioren oftmals zu wenig Flüssigkeit auf. Und manche Organe, allen voran die Leber, sind nicht mehr gut durchblutet, die Motilität des Gastrointestinaltrakts verlangsamt sich und der Magen sondert zu wenig Salzsäure ab. Muskelmasse hingegen schwindet, dafür steigt der Fettanteil. Das größte Problem aber bereiten Interaktionen, die umso komplexer werden, je mehr Arzneistoffe im Körper landen.
Auf Reise durch die Facharztwelt
Gerade ältere Menschen mit zahlreichen Leiden konsultieren diverse Fachärzte, oft werden pro Disziplin gleich mehrere Präparate verschrieben. Hinzu kommen OTCs und Nahrungsergänzungsstoffe – den Überblick hat meist niemand. Experten kritisieren bereits seit Jahren, dass – im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten – in Deutschland eine systematische Vernetzung der Gesundheitsberufe fehlt. Apotheker hätten keinen Zugriff auf Diagnostik bzw. auf alle Rezepte, und so bleibt nur die mehr oder minder große Bereitschaft der Patienten („Wie hieß dieses Präparat doch gleich, das mir der Kardiologe vor zwei Wochen verschrieben hatte?“). Daraus im Bereich der ambulanten Versorgung eine vernünftige Arzneimitteltherapie abzuleiten, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Umso wichtiger wäre aus pharmazeutischer Sicht, gemeinsame Datenbanken zu etablieren, in der alle roten Fäden zusammen laufen – letztlich ein Aspekt der elektronischen Gesundheitskarte. Aber auch das Konzept von ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände und Kassenärztlicher Bundesvereinigung sah ähnliche Vorgehensweisen auf regionaler Ebene vor (DocCheck berichtete). Selbst Kundenkarten könnten Sicherheit bieten, vorausgesetzt, die Patienten blieben ihrer Hausapotheke treu. Viele Optionen – über eine angemessene Honorierung des Medikationsmanagements wäre dann ebenfalls zu sprechen, liefert die „Garfinkel-Methode“ neben medizinischem Nutzen - quasi nebenbei - millionenschwere Einsparungen.