Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), ein Problem von Zappelphilipp oder Pippi Langstrumpf? Geraume Zeit stuften Psychiater das Leiden als Krankheit der Sprösslinge ein. Hilfe brauchen auch erwachsene Patienten, doch müssen es nicht immer Arzneimittel sein.
Vier bis sechs Prozent aller Kinder leiden unter dem Trias aus Aufmerksamkeitsstörung, Überaktivität und Impulsivität. „ADHS endet aber nicht im 18. Lebensjahr“, gibt Professor Dr. Wolfgang Retz vom Universitätsklinikum des Saarlandes, Homburg, zu bedenken. Er schätzt, dass bei bis zu 60 Prozent das Leiden aus Kindertagen im Erwachsenenalter persistiert – wenn auch mit teilweise deutlich veränderter Symptomatik. „Die motorische Unruhe der Kinder und Jugendlichen weicht vielfach einer inneren Unruhe und Ruhelosigkeit beim Erwachsenen“, so der Psychiater. Vermieden werden beispielsweise Theaterbesuche oder Warteschlangen – aus lauter Ungeduld. Vielfach klagen Patienten auch über häufige Stimmungswechsel – besonders ausgeprägt in privaten oder beruflichen Belastungssituationen. Dann drohen sozial inkompatible Überreaktionen wie Wutausbrüche – besonders riskant im Straßenverkehr.
Ein Leben voller Gefahren
Manche Patienten fallen durch einen gelinde gesagt mutigen Fahrstil auf, Verkehrsunfälle sowie ein aggressives Verhalten am Steuer inklusive. Im Alltag treten wiederum vermehrt Angststörungen und Depressionen auf, und Betroffene greifen eher zu Drogen oder konsumieren riskante Mengen an Alkohol. Auch der Job macht Probleme, ist ein chaotischer Lebensstil mit den meisten Tätigkeiten nur schwer vereinbar. Und so erreichen ADHS-Patienten trotz nachgewiesener Eignung oft nur niedrige Karrierestufen, ordnen sich schwer in hierarchische Strukturen des Arbeitslebens ein, fehlen häufiger und – kein Wunder – werden öfter entlassen. Was aber genau im Körper passiert, versuchen Forscher Schritt für Schritt zu entschlüsseln.
Rätselhafte Ruhelosigkeit
Als Ursache stehen genetische Faktoren hoch im Kurs – Zwillingsstudien gaben bereits vor Jahren entsprechende Hinweise. Jetzt zeigte eine große epidemiologische Studie Assoziationen mit mehreren Genen. Entsprechende Mutationen verändern funktionale Strukturen im Gehirn, wie Transporter oder Rezeptoren. Auch stoffwechselrelevante Enzyme sind betroffen. Das wiederum führt wahrscheinlich zu einem Mangel an Dopamin beziehungsweise Noradrenalin im Frontallappen der Großhirnrinde, behebbar durch Arzneistoffe wie Methylphenidat.
Umweltfaktoren scheinen hingegen nicht die Rolle zu spielen, Hinweise liegen nur für toxische Stoffe wie Alkohol, Drogen oder Chemikalien während der Schwangerschaft vor. Von sonstigen Thesen der Vergangenheit nehmen Wissenschaftler Abstand. „Die Bedingungen, unter denen ein Kind aufwächst, können den Verlauf und die Ausprägung der ADHS zwar stark beeinflussen. ADHS ist jedoch keine Erkrankung, die sich durch Erziehungsfehler, übermäßigen Medienkonsum oder falsche Ernährung erklären lässt“, stellt Retz klar.
Zwischen Fiktion und Funktionsstörung
Zahllose Artikel haben ADHS in der Vergangenheit als Massenleiden, Modekrankheit, als von der Pharmaindustrie erfundene Störung oder als nicht behandlungsbedürftige Variante menschlichen Verhaltens dargestellt. Patientenzahlen wurden dementsprechend nach oben oder unten korrigiert. Jenseits dieser Debatte etablierten Psychiater speziell für Erwachsene die Wender-Utah-Kriterien in der Diagnostik: Von ADHS sprechen Experten bei Aufmerksamkeitsstörungen plus Hyperaktivität. Zusätzlich müssen mindestens zwei weitere Kriterien erfüllt sein: Affektlabilität, desorganisierte Verhaltensweisen, Probleme bei der Affektkontrolle, Impulsivität oder emotionales Überreagieren.
Doch nicht in jedem Fall raten Fachärzte zur Therapie. Schränken allerdings psychiatrische beziehungsweise soziale Folgen die Lebensqualität stark ein, ist es höchste Zeit, zu handeln – und zwar in Form von multimodalen Konzepten mit Psycho- und Pharmakotherapie. Die Kombination kann laut den Leitlinien der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) sinnvoll sein, lassen sich Symptome wie das schlechte Organisationsverhalten eher psychotherapeutisch und Beschwerden wie innere Unruhe beziehungsweise emotionale Instabilität eher pharmakotherapeutisch in den Griff bekommen.
Auf der Suche nach dem besten Wirkstoff
Die Autoren der DGPPN-Leitlinie erwähnen dafür unter anderem Stimulanzien, Antidepressiva und Einzelsubstanzen wie Phenylalanin oder Nikotin. Professor Dr. Michael Rösler von der Universität des Saarlands: „Nach Expertenmeinung und evidenzbasierten Leitlinien ist Methylphenidat bei der Behandlung von Erwachsenen mit ADHS unumstritten die erste Wahl.“ Bis dato sah es für Erwachsene aber schlecht aus – war eine Medikation mit diesem Wirkstoff nur „off label“ möglich – ohne Kostenerstattung der GKVen, aber mit Haftungsrisiko für Kollegen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat jetzt auch grünes Licht für Patienten ab 18 Jahren gegeben. „Die Indikationserweiterung bei Methylphenidat für Erwachsene bedeutet für Patienten mit ADHS eine ganz wesentliche Ausweitung ihrer Behandlungsmöglichkeiten“, so BfArM-Präsident Professor Dr. Walter Schwerdtfeger. Als Grundlage beruft er sich vor allem auf zwei Untersuchungen.
Von EMMA und QUEMA
An der EMMA-Studie, einer Phase III-Untersuchung mit multizentrischem, randomisiertem, doppelblindem Design, nahmen 359 Erwachsene mit ADHS teil. Von ihnen erhielten 241 als Verum sechs Monate lang maximal 60 Milligramm Methlyphenidat in retardierter Galenik und 118 Placebo. Dabei zeigte sich ein Nutzen des Arzneistoffs zusätzlich zur Psychotherapie. Gute Ergebnisse lieferte auch die Folgestudie („QUEMA“) mit 162 Patienten, 84 nahmen das Verum, ein Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht. Im Vergleich zu Placebo kam es unter Methylphenidat zur signifikanten Verbesserung zahlreicher funktioneller sowie psychopathologischer Größen. Ein weiterer Aspekt: Auch nach längerer Behandlungsdauer schwächte sich die Wirkung nicht ab. Dennoch raten Pharmakologen, nach mehr als zwölfmonatiger Behandlung das Präparat testweise abzusetzen. Da Methylphenidat als Sympathomimetikum wirkt, sind außerdem Kontrollen der Herzfrequenz und des Blutdrucks unerlässlich.
Rollt bald die Rezeptwelle?
Nach der Zulassung ist auch die Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenversicherungen geklärt: Hier hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) entsprechende Richtlinien angepasst. Dennoch will das Gremium auch prüfen, inwieweit „Einschränkungen und Regelungen zum Schutz der Patienten“ erforderlich sind – befürchtet der G-BA eine drastische Zunahme von Verschreibungen bei Erwachsenen. Kollegen hingegen kritisieren, dass es zu wenige ADHS-Spezialisten für Diagnostik und Therapie gibt. Zwar könnten Hausärzte zusammen mit Experten die Versorgung übernehmen, sollten aber vor allem zur Erstdiagnose die fachärztliche Meinung einholen.
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