In die gerinnungshemmende Therapie ist Bewegung gekommen, aber auch Unruhe. Anlass: Meldungen über Todesfälle unter Dabigatran. Doch weder gibt es Gründe, Skandal zu rufen. Noch ist unkritische Euphorie berechtigt, wenn es um diesen und andere Blutverdünner geht.
Als 2009 die Ergebnisse der Studie RE-LY mit Pradaxa® (Dabigatran) präsentiert wurden, war vielfach von einem „Paradigmenwechsel“ in der gerinnungshemmenden Therapie die Rede. Vitamin-K-Antagonisten seien „out“, verkündete der Mitautor der Multicenter-Studie Professor Hans-Christoph Diener noch im Herbst dieses Jahres beim Neurologen-Kongress. Inzwischen ist vor allem beim Boehringer-Ingelheim-Präparat Dabigatran die Euphorie einer gewissen Ernüchterung gewichen. Allerdings ist auch bei den Konkurrenten Rivaroxaban (Xarelto®) und Apixaban (Eliquis®) wohl kaum ein Experte der Ansicht, dass hier alles reines Gold sei, was da glänzt. Konsens besteht sicher darin, dass der Klassiker Warfarin (in Deutschland das Marcumar®) verträglichere Nachfolger benötigt und die neuen Blutverdünner diese Rolle einnehmen könnten.
Nun der Reihe nach: Hintergrund der Ernüchterung im Zusammenhang mit Dabigatran sind Meldungen zu blutungsbedingten Komplikationen und vor allem Todesfällen sowie der Verdacht, der Gerinnungshemmer könne das Herzinfarkt-Risiko erhöhen. Der Verdacht ist nicht neu: 2010 veröffentlichten die Autoren der RE-LY-Studie im „New England Journal of Medicine“ die Ergebnisse eine Re-Analyse. Der Brief lieferte neue Daten zu Komplikationen unter dem Präparat, die in der ersten Publikation der RE-LY-Studie nicht enthalten waren. Nach Angaben der Studienleiter änderten die neuen Daten nichts an der positiven Gesamt-Einschätzung. Gleichwohl dämpfte eine erhöhte Herzinfarkt-Rate (ohne Zunahme der kardiovaskulären Sterblichkeit) unter Dabigatran (2 x 150 mg täglich) die Euphorie.
Nach der Zulassung: Weltweit Meldungen über Blutungen
Seit Zulassung des Gerinnungshemmers in mehreren Ländern haben sich in den vergangenen Monaten zudem Meldungen über blutungsbedingte Komplikationen im Zusammenhang mit Dabigatran gemehrt - für Experten jedoch wenig überraschend, handelt es sich schließlich um ein Medikament, das die Blutgerinnung hemmt oder, anders formuliert, Blutungen fördert. So berichteten zum Beispiel französische Mediziner im Juli in den „Archives of Internal Medicine“ über schwere Blutungs-Komplikation bei zwei über 80-jährigen und untergewichtigen Frauen. Und laut einer Meldung der neuseeländischen „Star Times“ im September gingen bei den verantwortlichen Behörden zwei Monate nach der Markteinführung immer mehr Berichte über Blutungen ein. Der Zeitung selbst seien zwei Todesfälle bekannt, hieß es. Todesfälle wurden auch aus Japan und den USA berichtet, aus Australien durch die zuständige Behörde, die „Therapeutic Goods Administration“, eine Zunahme von Berichten über Komplikationen.
Der Hersteller handelt
Vor dem Hintergrund solcher Meldungen kündigte dann Ende Oktober Boehringer Ingelheim an, „in Abstimmung mit der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) medizinische Fachkreise in Europa über ergänzende Empfehlungen zu Dabigatran zu informieren. Dabei, so hieß es in der Mitteilung, gehe es „um die Wichtigkeit der Beurteilung der Nierenfunktion“. In Deutschland erfolgte diese Information in Abstimmung mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Form eines Rote-Hand-Briefes. Dieser Brief vom 27. Oktober empfahl vor allem, vor Beginn einer Behandlung mit dem Thrombinhemmer bei allen Patienten die Nierenfunktion zu beurteilen. Während der Therapie werde „eine Überprüfung der Nierenfunktion in klinischen Situationen empfohlen, in denen eine Abnahme der Nierenfunktion vermutet wird“. Darüber hinaus betonte der Arzneimittelhersteller, dass – wie bereits in der Fachinformation vorgegeben – Patienten mit stark eingeschränkter Nierenfunktion nicht mit dem Gerinnungshemmer behandelt werden sollten. Am dritten November wies das Unternehmen auch in einer Pressemitteilung unter anderem darauf hin, dass es es bei einem so wirksamen Medikament natürlich auf die korrekte Handhabung ankomme. Außerdem: „Die bisher von Ärzten gemeldeten Blutungen, darunter auch tödliche Blutungen, sind im Verhältnis geringer als jene, die in der Zulassungsstudie (RE-LY) mit 18.000 Patienten erhoben wurden.“ Bezogen auf tödliche Blutungen habe der Thrombinhemmer in der hohen Dosis ein vergleichbares und in der niedrigen sogar ein günstigeres Sicherheitsprofil als Vitamin-K-Hemmer.
260 Todesfälle weltweit
Wenige Tage später, am 12. November, meldete der „Spiegel“, dass unter Dabigatran mehr Todesfälle aufgetreten seien als bislang veröffentlicht. Weltweit seien dem Hersteller bis Anfang November 256 Todesfälle gemeldet worden, rund fünfmal mehr als bisher bekannt. Boehringer Ingelheim wiederum meldete daraufhin, detaillierte Zahlen zu dem Blutverdünner einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Außerdem habe man ein weltweites Register für Patienten mit Vorhofflimmern initiiert, um die Sicherheit des Gerinnungshemmers in der Routineversorgung zu beobachten. Laut Hersteller ist im Zeitraum von 3,5 Jahren seit der Erstzulassung von Dabigatran weltweit von 260 Fällen tödlicher Blutungen auszugehen, davon 4 in Deutschland.
Fachgesellschaften nehmen Stellung
Aufgrund der Verunsicherung vieler Patienten und Ärzte sahen sich dann mehrere medizinische Fachgesellschaften veranlasst, Stellung zu nehmen. In Übereinstimmung auch mit der „European Medicines Agency“ (EMA) kamen sie zu dem Schluss, dass das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Gerinnungshemmers bei korrekter Anwendung positiv sei. Ihre Hauptbotschaft lautete daher: Patienten sollten Dabigatran nicht eigenmächtig absetzen und eine „Änderung des Medikaments nur in enger Absprache mit ihrem behandelnden Arzt“ vornehmen. Außerdem hieß es in der Stellungnahme:
Nur ein Problem aller neuen Gerinnungshemmer: kein Antidot
Worauf die Fachgesellschaften nicht eingingen, ist ein Problem, das alle neuen Blutverdünner betrifft. US-Chirurgen und Notfallmediziner haben es kürzlich in einem Brief im „New England Journal of Medicine“ angesprochen. Worum es geht, ist das Problem von Blutungen bei Trauma-Patienten, die mit den neuen Wirkstoffen behandelt werden. Der Hintergrund: Es gibt anders als beim Marcumar kein Antidot, und mangels regelmäßiger Labor-Kontrollen ist außerdem weder der Gerinnungs-Status noch die Patienten-Compliance bekannt. Anlass des Briefes waren Todesfälle bei traumatisierten Dabigatran-Patienten. Zwar bereiteten Blutungen auch bei traumatisierten Warfarin-Patienten einige Kopfschmerzen, aber da wisse man, dass man etwas tun könne, so Dr. Bryan A. Cotton („Center for Translational Injury Research“ in Houston), einer der drei Autoren des Briefes. Bei Dabigatran-Patienten hingegen habe er richtige Herzschmerzen. Cotton und seine Kollegen forderten daher von der FDA, bei den Studien zu neuen Gerinnungshemmern mehr auf „Alltagsrelevanz“ zu achten und „pragmatische Studien“ zu verlangen. Boehringer Ingelheim nimmt das Problem laut Cotton zweifelsohne ernst: Unmittelbar nach Erscheinen des Briefes habe sich das Unternehmen bei ihm gemeldet und um mehr Informationen zu den Todesfällen gebeten, so Cotton. Außerdem habe man ihn darüber informiert, an einem Antidot zu arbeiten. Blutungen bei traumatisierten Patienten, die mit den neuen Blutverdünnern behandelt werden, sind aber nur ein Problem. Ein weiteres, auch noch ungelöstes Problem sei das Vorgehen in der Akutsituation eines ischämischen Schlaganfalls und einer Hirnblutung unter Therapie mit den neuen Substanzen, erklären die Heidelberger Professoren Werner Hacke und Roland Veltkamp in einem aktuellen Beitrag.
Kritik auch an den Zulassungsstudien
Boehringer Ingelheim hat zudem nicht allein mit dem Problem „Blutungen“ zu kämpfen. Kritik gab und gibt es auch an der RE-LY-Studie - was jedoch bei großen Studien nicht ungewöhnlich ist („Archives of Internal Medicine“). So wurde laut Kritikern der Studie der Gerinnungshemmer - wie viele Arzneimittel - bei Patienten geprüft, die nur teilweise denen entsprachen, mit denen Ärzte es im Praxisalltag zu tun haben. Hinzu kommt das bei allen neuen Medikamenten so beliebte Thema des Preises. Das „NICE“ in Großbritannien immerhin bewertete Anfang November den Blutverdünner zur Prävention von Schlaganfällen bei Vorhofflimmern als kosteneffektiv. Auch eine im Mai publizierte US-Studie kam zu dem Ergebnis, dass der Gerinnungshemmer in der 150-Milligramm- Dosis bei Hochrisiko-Patienten kosteneffektiv sei („Circulation“). Ein ähnliches Resultat hatte bereits 2010 eine in den „Annals of Internal Medicine“ veröffentlichte Studie ergeben. Doch das unter anderem auf Kosten-Analysen spezialisierte Unternehmen „Prime Therapeutics“ kam vor wenigen Wochen zu dem Resultat, dass die Schlaganfall-Prävention mit Dabigatran auch dann noch teurer als mit Warfarin sei, wenn die Kosten für die Gerinnungstests unter dem Vitamin-K-Antagonisten berücksichtigt würden.
Diskussionen, auch kontroverse, gibt es jedoch nicht allein bei Dabigatran und der RE-LY-Studie, sondern auch bei Konkurrenten und ihren im September publizierten Zulassungsstudien, also der „ROCKET AF“ für Rivaroxaban (Bayer) und der „ARISTOTLE“-Studie für Apixaban (Pfizer/BMS). Auch für diese Faktor-Xa-Hemmer gibt es noch keine Antidots. Im Fokus der Kritik steht - vor allem bei der Rivaroxaban-Studie - die Qualität der Gerinnungs-Einstellung unter Warfarin, die, so manche Kritiker, so unzureichend gewesen sei, dass der Vitamin-K-Antagonist deutlich benachteiligt worden sei. Die US-Patientenvereinigung „Public Citizen“ hatte die FDA sogar aufgefordert, Rivaroxaban nicht zuzulassen.
Ähnliche Kritik gab und gibt es auch beim Apixaban, wie unter anderen Diskussionen auf dem Kardiologen-Portal „CardioExchange“ zeigten. Die „ARISTOTLE“- Studie hätte gar nicht veröffentlicht werden dürfen, soll etwa Dr. Arnold Relman, emeritierter Harvard-Professor und ehemaliger Herausgeber des „New England Journal of Medicine“, bei einer Veranstaltung der Universität in Boston gesagt haben. Ein Grund: Die Autoren seien nicht auf das „Problem“ eingegangen, dass die Warfarin-Einstellung nicht optimal gewesen sei; auch in dieser Studie sei das neue Präparat begünstigt worden. Die Einstellung sei gut gewesen und wahrscheinlich besser als das, was außerhalb klinischer Studien erreicht werde, meinte hingegen der US-Kardiologe Dr. Edward J. Schloss (Cincinnati in Ohio). Außerdem sollte nicht vergessen werden, wie problematisch die Warfarin-Therapie sei.
Der Paradigmenwechsel in der gerinnungshemmenden Therapie ist unstreitig eingeleitet. Aber bis es heißen kann, „der König ist tot, es lebe der König“, werden noch einige Fragen zu klären sein und vor allem mehr Daten aus der Versorgungsrealitität vorliegen müssen. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere: Nach einer aktuellen Analyse der „Centers for Disease Control and Prevention“ sei in den USA Warfarin für ein Drittel aller medikations-bedingten Notfallaufnahmen von älteren Patienten „verantwortlich“ und das derzeit mit Abstand gefährlichste Medikament („New England Journal of Medicine“).