In Deutschland leiden etwa 3,5 Millionen Menschen an neuropathischen Schmerzen. Schmerzen dieser Art werden durch Fehlfunktionen, Läsionen oder Entzündungen von Nerven ausgelöst. Nicht selten ist die analgetische Therapie von Versuch und vielen Irrtümern geprägt.
Neuropathischer Schmerz ist laut Definition der International Association for the Study of Pain (IASP) „ein Schmerz, der durch Läsionen oder Dysfunktionen des Nervensystems ausgelöst oder bedingt ist“. Nach neueren Erkenntnissen werden neuropathische Schmerzen nicht mehr organbezogen sondern nach ihrem zu Grunde liegenden Pathomechanismus eingeteilt. Die Grundlage bilden die Veränderungen im neurologischen und biochemischen Gleichgewicht. Eine bedeutsame Rolle spielen dabei u.a. der Neurotransmitter Glutamat sowie die NMDA-Rezeptoren. Ein für eine Chronifizierung typisches Schmerzsignal steigert die Erregbarkeit sekundärer Neurone. Das Neuron feuert jetzt unkontrolliert Signale. Diese erhöhte Depolarisationsfrequenz wird als Schmerz interpretiert. Dieses „wind-up-Phänomen“ ist ein Teil des Schmerzgedächtnisses.
Die Fehlinformationen werden im Wesentlichen über exzitatorische glutamaterge Rezeptoren vermittelt. Über Subtypen diverser Glutamatrezeptoren, die AMPA- und NMDA-Rezeptoren, erfolgt ein vermehrter Kationen-Einstrom und damit eine erhöhte Erregbarkeit der Hinterhornneurone. Die Reizschwelle für Schmerz sinkt und der Patient empfindet auch dann Schmerz, wenn die eigentliche Ursache nicht mehr besteht.
Sowohl die Nomenklatur, die Diagnose als auch die Therapie neuropathischer Schmerzen ist anspruchsvoll. Da der Pathomechanismus sich von beispielsweise traumatischen oder Entzündungsschmerzen unterscheidet, muss auch die Therapie andere, multifunktionale Ansätze verfolgen. Nicht-opioide Analgetika unterbinden die Schmerzweiterleitung durch eine Hemmung der Prostaglandinsynthese, opioide Analgetika verändern die Schmerzverarbeitung durch Agonismus an den diversen Opiatrezeptoren. Beim neuropathischen Schmerz stehen vielmehr das Schmerzgedächtnis, die Hyperpolarisation und die neuronale Regeneration im Vordergrund.
Vielfältiges Therapie-Potpourie
Gerade bei neuropathischen Schmerzen verläuft die Therapie nach dem Schema „Versuch und Irrtum“. Dass es nicht „den“ Neuropathieschmerz gibt, erschwert die Auswahl des wirksamen Therapeutikums ungemein. Derzeit werden drei Substanzgruppen mit sehr unterschiedlichen Wirkungsspektren eingesetzt. Die Arzneistoffe werden allein oder in Kombination angewendet. Die drei Säulen bilden trizyklische Antidepressiva, das Antikonvulsivum Gabapentin und Opioide. Ionenkanalhemmer, Phytopharmaka und TENS ergänzen die Auswahl
Opioide – stufengerecht therapieren
Es ist eine irrige Annahme, dass Opiate und Opioide keinen Stellenwert in der Neuropathie-Therapie haben. „Frühere Aussagen, dass Patienten mit Neuropathien auf Opioide nicht adäquat reagieren, beruhen überwiegend auf einer besonderen Patientenselektion oder stammen aus Studien, in denen zu geringe Dosierungen eingesetzt werden“. Diese Ansicht vertritt Prof. Dr. Christoph Maier. Der Leiter der Abteilung für Schmerztherapie der BG Kliniken Bergmannsheil in Bochum stellt in seinem aktuellen Schmerztherapiebuch dar, dass sich Opioide der Stufe III in vielen Studien bei Polyneuropathie, Postzosterneuralgie, Phantomschmerzen u.a. bewährt haben. Dazu zählen u.a. Morphin, Hydrocodon, Oxycodon, Buprenorphin und Fentanyl. Versagen die Opiate, kann es daran liegen, dass der Patient ein sog. Poormetabolisierer ist oder einen Gendefekt aufweist, der verhindert, dass Opiate in ihre Wirkform umgewandelt werden.
Stufe III muss schon sein
Priv.-Doz. Dr. med. Michael A. Überall, Vizepräsident des Schmerztherapeutischen Kolloquiums der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie plätdiert für die starken Stufe III-Opiate. „Auf der Grundlage der verfügbaren medizinisch-wissenschaftlichen Evidenz (EBM) erweisen sich die WHO-III-Opioide als wirksamste Therapieoption für die Behandlung von Patienten mit neuropathischen Schmerzen, während die Wirksamkeitsdaten aller anderen Gruppierungen nahezu vergleichbar waren“.
Besonders bei dem Studienaspekt „number-needed-to-treat“ schnitten die Wirkstoffe des Schlafmohns besonders effizient ab. Dieser Parameter gibt an, wie viele Patienten mit einem Medikament behandelt werden müssen, damit einer einen echten Therapievorteil erlebt. Hier werden Opioide der WHO-Klasse III nur 2,8 Patienten benötigt, während für NMDA-Antagonisten 5,3, für WHO-II-Opioide wie Tramadol 5,7, und Gabapentin immerhin 6,1 Patienten behandelt werden müssen. Bei der Gabe starker Opioide wie Morphin, Oxycodon, Methadon und Levorphanol resultierte in sieben Studien mittlerer Dauer (Median 28 Tage) eine mittlere Schmerzreduktion um 13 Punkte auf einer Skala von 0 bis 100 (30). Somit ist bei ansonsten refraktären neuropathischen Schmerzen ein Therapieversuch mit oralen Opiaten gerechtfertigt.
Keinesfalls dürfen Opiate unterschiedlicher Stärken miteinander kombiniert werden. Das mit der höheren Affinität zum Rezeptor verdrängt den schwächeren Konkurrenten. Die gewünschte Verstärkung der Analgesie bleibt aus, unerwünschte Wirkungen wie Übelkeit und Obstipation hingegen können sich potenzieren. Vor einer (Dauer)Therapie mit Opioiden müssen nach Möglichkeit natürlich andere, möglichst kurative Maßnahmen, ergriffen werden.
Antikonvulsiva – nicht neu aber innovativ
Bereits in den 60er Jahren wurden antikonvulsive Pharmaka bei chronischen Schmerzsyndromen angewendet. Besonders wenn der Schmerz einen brennenden und stechenden Charakter besitzt oder paroxysmal auftritt, lassen sich erstaunliche Erfolge erzielen. So unterschiedlich wie die chemische Struktur ist der Wirkmechanismus der einzelnen Substanzen. Meist werden Natrium- und Kaliumkanäle beeinflusst. Aber auch eine Wirkung im GABA- und glutaminergen System, auf Glutamin sowie auf den neuronalen pH-Wert lassen sich als Mechanismus nachweisen.
Pregabalin ist wie Gabapentin ein GABA-Analogon, ohne jedoch an GABA-Rezeptoren anzudocken. Das neuere Pregabalin zeichnet sich im Vergleich zur bereits länger etablierten Substanz durch zahlreiche kinetische und dynamische Vorteile aus. Pregabalin wird hepatisch kaum metabolisiert. Es wird rasch resorbiert, hat deshalb einen geringen first-pass- Effekt und bei einer Leberinsuffizienz muss keine Dosisanpassung vorgenommen werden. Der Wirkungseintritt von Pregabalin erfolgt sehr rasch. Im Gegensatz zu Gabapentin ist kein langsames und compliance-unfreundliches Auftitrieren notwendig. Placebokontrollierte Studien zeigen, dass die Wirkung bereits nach einigen Tagen eintritt. Bei wiederholter Anwendung bildet sich nach ein bis zwei Tagen ein Steady State aus.
Außerdem ist das Interaktionspotenzial vergleichsweise gering. Je größer die Plasma-Protein-Bindung, desto größer ist das Risiko für pharmakokinetische Arzneimittelwechselwirkungen. Da Pregabalin nicht an Plasmaproteine bindet, sind Interaktionen dieser Art nicht zu befürchten. Dies ist auch deshalb bedeutsam, da Patienten mit neuropathischen Schmerzen nicht selten multimorbid sind und eine Vielzahl von Pharmaka einnehmen müssen.
Pregabalin bindet an N-Typ-Calciumkanäle. Dadurch wird die spontane und unkontrollierte Reizabgabe geschädigter Axone unterdrückt. Außerdem werden teilweise die Natriumkanäle sowie spannungsabhängige Kaliumkanäle blockiert und die Freisetzung der Schlüsselsubstanz Glutamat verhindert. Alle drei Transmitter sind in die Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses involviert. In einer Dosierung von 150 bis 600 mg konnte Pregabalin innerhalb von zwölf Wochen bei rund der Hälfte der Patienten die Schmerzen halbieren (Placebo 25 Prozent). In der Initialphase der Therapie kann die Wirkung mit opioiden Analgetika oder evtl. Amitriptylin kombiniert werden.
Die Therapie mit Pregabalin bessert zusätzlich die Lebensqualität der Patienten multifaktoriell. Es verringert die häufig als Co-Erkrankung auftretende Generalisierte Angststörung. Außerdem werden als Komorbidität häufig vorhandene Schlafstörungen erheblich gebessert. Dies hat nicht nur Einfluß auf die Lebensqualität, sondern auch auf die Pathogenese: Eine verminderte Schlafqualität und –quantität triggert die gesteigerte Schmerzwahrnehmung.
Das Schmerzorchester hat viele Solisten
Schmerz macht Angst, Angst macht Muskelverkrampfung und die wiederum triggert den Schmerz. Sie somatomotorische Relaxierung nimmt deshalb eine Schlüsselrolle in der Therapie und Chronifizierungsprophylaxe des Rückenschmerzes ein. Endorphine und Prostaglandine sind lediglich zwei „Musiker“ im Schmerzorchester, wenn auch wichtige Solisten. Neue Erkenntnisse der Schmerzphysiologie haben maßgeblich dazu beigetragen, auch andere Mediatoren als „Feinde“ zu klassifizieren. Neuerdings sind auch die Ionen Natrium, Kalium und Calcium als Schmerzmediatoren identifiziert worden. Somit ergeben sich adjuvante Therapiekonzepte. Bisher existiert für die Pharmakagruppe, die die Ionenkonzentration an Natrium, Kalium oder Calcium mindert und so die neuronale Plastizität beeinflussen kann, keine einheitliche Nomenklatur.
Tolperison: wie Lidocain- nur anders
Tolperison unterscheidet sich in zahlreichen Aspekten von üblichen Muskelrelaxantien. Das Pharmakon besetzt nicht nur Bindungsstellen im zentralen Nervensystem, sondern greift auch an peripheren Nerven an. Obwohl es mit Lidocain verwandt ist, zeigt Tolperison keine antiarrhythmogenen Eigenschaften am Herzmuskel. Durch eine lidocainähnliche Blockade der Natriumkanäle der Nervenmembran bewirkt Tolperison eine konzentrations- und reizstärkeabhängige Abnahme der axonalen Erregbarkeit. Weiterhin nimmt die axonalen Erregbarkeit konzentrations- und reizstärkeabhängig ab.
Flupirtin: Türöffner für Kalium
Flupirtin gehört zur Substanzklasse der Selective Neuronal Potassium Channel Opener (SNEPCO). Der Wirkansatz klingt spannend, Berichte über Leberschäden und einen möglichen Missbrauch lassen den Kanalöffner aktuell im ungünstigen Licht erscheinen. Die IGOST betrachtet die Wirkung „primär oder reflektorisch muskulkär“ immerhin als B-Empfehlung (sollte). Die Nationale Versorgungsleitlinie Kreuzschmerz vom 4. Oktober 2010 hingegen sieht einen Wirksamkeitsvorteil als nicht erbracht an.
Paprika brennt den Schmerz weg
Inhaltsstoffe des Cayennepfeffer sind die Scharfstoffe vom Vanillylamidtyp, die Capsanoide, mit bis zu 77% Capsaicin. Capsaicin bindet sich spezifisch an afferente nozizeptive C-Fasern. Infolge dieser Rezeptorbindung kommt es initial zu einer vermehrten Ausschüttung des Neuropeptids Substanz P und somit zu den typischen Anzeichen einer neurogenen Entzündung. Dieses erklärt das Auftreten von verstärkten Missempfindungen und Schmerzen bei Therapiebeginn. Im weiteren Verlauf der Behandlung verarmt die Nervenfaser jedoch an Substanz P, was zu einer Desensibilisierung der sensorischen Fasern führt, womit sich der analgetische Effekt von Capsaicin erklären lässt. Bei zwei- bis viermaliger täglicher Anwendung einer capsaicinhaltigen Salbe über 8 Wochen konnte in mehreren Doppelblindstudien eine Abnahme der Schmerzsymptome gezeigt werden.
Eine Metaanalyse von Mason et al untersuchte anhand der Ergebnisse randomisierter plazebokontrollierter Studien die Effektivität und Sicherheit von topisch verabreichtem Capsaicin in der Behandlung von Schmerzzuständen bei neuropathischen und muskuloskeletalen Erkrankungen. Primärer Endpunkt war die Zahl der Patienten, bei denen innerhalb von vier Wochen (bei muskuloskeletalen Erkrankungen) bzw. acht Wochen (bei neuropathischen Erkrankungen) eine Schmerzreduktion von mindestens 50% erzielt werden konnte. Sekundäre Endpunkte waren Nebenwirkungen und Behandlungsabbrüche aufgrund unerwünschter Wirkungen von Capsaicin. Im Hinblick auf neuropathischen Erkrankungen wurden sechs plazebokontrollierte Doppelblindstudien mit insgesamt 656 Patienten ausgewertet. Die mittlere Ansprechrate einer Behandlung mit Capsaicin lag bei 57%, unter Plazebo bei 42%. Daraus ergibt sich ein relativer Nutzen einer topischen Behandlung mit einer 0,075%-igen Capsaicin-Zubereitung im Vergleich zu Plazebo von 1,4.
Bezüglich muskuloskeletaler Erkrankungen wurden drei plazebokontrollierte Doppelblindstudien mit insgesamt 368 Patienten ausgewertet. Die mittlere Ansprechrate einer lokalen Behandlung mit Capsaicin lag bei 38%, unter Plazebo bei 25%. Der relative Nutzen einer topischen Behandlung mit einer 0,025%-igen Capsaicin-Zubereitung (Creme oder Pflaster) im Vergleich zu Plazebo betrug damit 1,5. Bei etwa einem Drittel der Patienten verursachte Capsaicin Nebenwirkungen, die unter der Plazebo-Behandlung nicht auftraten.
Die Autoren resümierten, dass topisch appliziertes Capsaicin eine schwache bis moderate Wirkung bei der Behandlung chronischer muskuloskeletaler oder neuropathischer Erkrankungen besitzt. Es kann entweder als adjuvante oder als alleinige Therapie bei einer kleinen Zahl von Patienten, die auf andere Behandlungsmöglichkeiten nicht ansprechen oder sie nicht vertragen, sinnvoll sein.
Es geht noch heißer…
Erheblich stärker dosiert ist ein neuartiges Pflasterstystem mit 8% Capsaicin. Die EMEA hat die Zulassung zur Therapie von peripheren neuropathischen Schmerzen bei nicht-diabetischen Erwachsenen erteilt. Das Pflaster wird unter medizinischer Aufsicht maximal 60 Minuten aufgeklebt, die Wirkung soll bis zu 90 Tage anhalten. Vor und bei der Anwendung sind zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen zu treffen (Reinigung, Lokalanaesthesie, Handschuhe, Nachbehandlung).
Ausblick
Vermutlich werden zukünftig NMDA-Antagonisten früher als bisher zur Kombitherapie eingesetzt werden. Neben dem etablierten Memantin hat sich auch Dextrometorphan bewährt. Dieses Pharmakon ist seit langer Zeit als Antitussivum am Markt und zeichnet sich durch ein günstiges Nebenwirkungsprofil aus. Derzeit ist es für die Schmerzindikation noch nicht zugelassen. Erste Fallberichte weisen auf eine Wirkung des TNF-alpha-Antagonisten Etanercept sowie von Thalidomid oder Lenalidomid bei andernfalls therapierefraktären Fällen hin. Kontrollierte Studien hierzu stehen noch aus. Weitere Substanzen, die sich aktuell in klinischen Prüfungen befinden, sind Antagonisten des Nervenwachstumsfaktors NGF, Cannabinoide, spezifische Natriumkanalblocker und Inhibitoren des Capsaicin-Rezeptors TRPV1.
Obwohl kaum valide Studiendaten zu Kombinationstherapien vorliegen, kann es hilfreich sein, lokale mit systemischen Maßnahmen sowie Medikamente mit verschiedenen Angriffspunkten wie beispielsweise Antikonvulsiva und Opioide in niedrigerer Dosierung als bei Einzelgabe zu kombinieren. Vieles bleibt Empirie: kalte oder warme Fußbäder, Akupunktur, TENS und vieles mehr. Bei neuropatischen Schmerzen geht probieren über studieren.