Was dem Menschen recht ist, kann der Zelle nur billig sein. Während die moderne Arbeitsseele, von Reizen überflutet, im Burn-out zusammenbricht, stirbt die Körperzelle, von fiesen Sauerstoffradikalen belagert, den oxidativen Stresstod. Nur: Ist das wirklich so? Privatdozent Dr. Tobias Dick vom Deutschen Krebsforschungszentrum (dkfz) hat da so seine Zweifel.
DocCheck: Was genau ist eigentlich oxidativer Stress? Tobias Dick: Damit sind wir schon mittendrin im Thema. Ich halte diesen Begriff für problematisch, weil er eben nicht genau definiert ist. Üblicherweise wird darunter die übermäßige Produktion und Akkumulation reaktiver Sauerstoffverbindungen verstanden. Man spricht auch von "freien Radikalen". Dieser Begriff ist allerdings auch problematisch, schon deswegen, weil nicht alle reaktiven Sauerstoffverbindungen Radikale sind.
DocCheck: Der Ausdruck „Stress“ deutet ja schon darauf hin, dass diese biochemische Gemengelage gemeinhin als negativ angesehen wird. Warum eigentlich? Tobias Dick: Dahinter steckt letztlich die Vorstellung, dass zu viele reaktive Sauerstoffspezies die Zellen beschädigen und belasten. Da ist natürlich am extremen Ende etwas dran: Wenn ich Zellen intensiv mit UV-Licht bestrahle, dann entstehen nachweisbar reaktive Sauerstoffverbindungen, die zum Beispiel das Erbgut dann in der Tat beschädigen können. Der Punkt ist aber: Bestimmte reaktive Sauerstoffverbindungen sind für einen Organismus ausgesprochen wichtig. Sie sind Teil der ganz normalen Physiologie, insbesondere der Signalketten, die das gesunde Verhalten der Zellen im Körper steuern. Das sollte man schon zur Kenntnis nehmen. Nur weil etwas in extremer Dosierung schädlich ist, ist es noch nicht per se gefährlich und unerwünscht. Auch dürfen wir aus den Experimenten mit UV-Licht nicht schließen, dass eine Erhöhung der Konzentration an Oxidantien generell von Nachteil ist.
DocCheck: Sie haben als erster eine Methode entwickelt, die es ermöglicht, oxidative Prozesse im lebenden Organismus live zu beobachten. Der oxidative Stress hat also einen schlechten Ruf, obwohl er bisher gar nicht direkt untersuchbar war? Tobias Dick: Es gibt natürlich schon lange Möglichkeiten, die Redox-Situation eines Gewebes zu untersuchen. Aber bisher waren das vor allem Artefakt-anfällige und indirekte Nachweise. In den meisten Fällen muss das Gewebe oder der Organismus zerstört werden um die Analyse überhaupt zu ermöglichen. Das hat gravierende Probleme: Oxidantien sind nämlich sehr labil, und sie verändern sich auch noch im Zuge der Zerstörung des Gewebes. Damit produzieren solche Methoden regelmäßig Artefakte, so dass man nie wirklich sicher sein kann, was man eigentlich misst. Ein anderer Ansatz besteht darin oxidative DNA- oder Protein-Schäden sichtbar zu machen, etwa am Gewebeschnitt. Das Problem dabei ist, dass man nicht einfach davon ausgehen darf, dass eine Zunahme der freien Radikale für solche Schäden verantwortlich ist. Wenn ich eine Zunahme an oxidativen Gewebeschäden vorfinde, dann kann das auch daran liegen, dass die Reparaturkapazität der Zelle nachgelassen hat. Ein letzter Punkt: Die meisten chemischen Reagenzien, die zum Nachweis von Oxidantien in Zellkultur genutzt werden, sind äußerst unspezifisch. Das macht die Interpretation der Ergebnisse natürlich auch nicht einfacher.
DocCheck: Worin genau besteht nun Ihr Ansatz bei der Analytik des Oxidationsstatus einer Zelle? Tobias Dick: Wir arbeiten mit lebenden Organismen, konkret bisher mit Fruchtfliegen. Es ist uns gelungen, für bestimmte Oxidantien spezifische Proteinbiosensoren zu bauen, die ein bestimmtes Fluoreszenzverhalten zeigen, wenn sie mit dem entsprechenden Oxidans in Kontakt kommen. Die genetischen Codes für diese Sensoren können wir ins Erbgut einbauen. Wir erzeugen also transgene Tiere. Bei der Fruchtfliege lässt sich die Fluoreszenz dann direkt messen, so dass relativ präzise Aussagen darüber möglich werden, wie und wo sich der Oxidationsstatus in unterschiedlichen Geweben im Laufe der Zeit ändert. Wir können dabei gewissermaßen zusehen.
DocCheck: Klappt das mit allen wichtigen Oxidantien? Tobias Dick: Noch nicht, nein. Es funktioniert bisher mit Wasserstoffperoxid und mit oxidiertem Glutathion. Mit Superoxid haben wir es noch nicht geschafft, das ist ein bisher ungelöstes Problem.
DocCheck: Was genau sehen Sie, wenn Sie der Fruchtfliege beim Oxidieren zusehen? Tobias Dick: Mit der Methodik lässt sich natürlich eine ganze Menge an Untersuchungen anstellen. Eine der Fragen, die wir uns gestellt haben, lautete: Wie verändert sich der Oxidationsstatus unterschiedlicher Gewebe im Laufe des Lebens? Eine häufig anzutreffende These ist ja, dass Organismen im Laufe ihres Lebens Oxidationsprodukte anhäufen und daran letztlich zugrunde gehen, sich also gewissermaßen zu Tode oxidieren. Eine generelle Zunahme von Oxidantien mit zunehmendem Lebensalter konnten wir aber in der Fliege nicht beobachten. Mit einer Ausnahme: Das Darmgewebe zeigte eine ausgeprägte altersabhängige Akkumulation von Wasserstoffperoxid.
DocCheck: Warum der Darm? Tobias Dick: Das wissen wir noch nicht so genau. Es könnte immunologische Gründe haben, etwa eine Abwehrreaktion gegen bestimmte unerwünschte Darmbakterien, die sich mit zunehmenden Alter breit machen. Aber für die spezielle Fragestellung ist noch folgendes interessant: Wenn wir die Darmsituation von langlebigen Fruchtfliegen mit der von weniger langlebigen Fruchtfliegen vergleichen, dann akkumuliert Wasserstoffperoxid bei den langlebigen Fruchtfliegen deutlich schneller und stärker als bei den kurzlebigen Fruchtfliegen zu vergleichbaren Zeitpunkten. Das spricht erneut gegen die These, dass, wer mehr Oxidantien anreichert, früher stirbt.
DocCheck: Was leiten Sie aus diesen Beobachtungen ab? Tobias Dick: Was wir auf jeden Fall sagen können ist, dass unsere Daten die klassische Theorie zum Altern durch oxidative Schäden nicht unterstützen. Genau genommen haben wir überhaupt keine Hinweise dafür gefunden, dass Oxidantien den Alterungsprozess antreiben. Allerdings ist natürlich der umgekehrte Kausalschluss auch nicht gerechtfertigt: Nur weil langlebige Fruchtfliegen mehr Oxidantien generieren, sind diese nicht zwangsläufig ein Agens für längeres Leben. Was wir, Stand heute, für sehr denkbar halten ist, dass die von uns im Darmgewebe beobachteten Oxidantien einfach in überhaupt keinem direkten Kausalzusammenhang mit dem Altern stehen.
DocCheck: Um den oxidativen Stress herum hat sich ja eine ganze Industrie entwickelt, von Herstellern von Nahrungsergänzungsmitteln bis hin zu Pharmaunternehmen, die bei Medikamenten aller Art mit angeblich pleiotropen antioxidativen Zusatzeffekten werben. Alles Quatsch? Tobias Dick: Sagen wir mal so: Wir haben uns mit N-Acetyl-Cystein (NAC) einen Wirkstoff angesehen, dem üblicherweise antioxidative Effekte nachgesagt werden und der auch in Zellkulturuntersuchungen als experimentelles Antioxidans eingesetzt wird. Wir haben unsere Tiere über unterschiedliche Zeiträume und in unterschiedlichen Dosierungen mit NAC gefüttert und haben in keiner Dosierung und in keinem Gewebe eine Verringerung der Oxidantien festgestellt. Tatsächlich wurden in den Mitochondrien der meisten Gewebe als direkte Reaktion auf die NAC-Gabe mehr Oxidantien produziert. Was das jetzt bedeutet, wissen wir auch nicht. Aber eines ist deutlich geworden: Wir können ganz offensichtlich nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass eine Verbindung, die prinzipiell ein antioxidatives Potential hat, im lebenden Organismus tatsächlich so wirkt.
DocCheck: Bleiben Sie an dem Thema dran? Tobias Dick: Wir untersuchen schon seit mehreren Jahren zelluläre Redoxprozesse und wollen das auch weiterhin tun. Gerade für die Krebsforschung, bei der wir ja angesiedelt sind, ist das sehr relevant. Der bisherige Konsens ist, dass Tumore mehr Oxidantien produzieren als entsprechende Zellen aus Normalgeweben, und dass das zur Tumorentwicklung irgendwie beiträgt. Wir werden sehen, in wie weit wir das bestätigen können. Der nächste Schritt ist jetzt erst einmal, ins Mausmodell zu gehen. Da sind wir noch nicht ganz, vor allem deswegen, weil sich Fluoreszenz bei der Maus natürlich nicht so einfach messen lässt wie bei einer eher transparenten Fruchtfliege. Wir arbeiten daran.