Wenn Schönheit zum Verhängnis wird: Weltweit erhielten schätzungsweise 500.000 Frauen minderwertige Silikonkissen. Viele Patientinnen müssen jetzt nochmals unter das Messer. Neben offenen Fragen zur Kostenübernahme bleibt für sie vor allem eine Ungewissheit: Warum versagten alle Kontrollmechanismen für Medizinprodukte?
Die Schreckensmeldung kam bereits Mitte 2010: In Frankreich hatte Poly Implant Prothèse (PIP) bei 75 Prozent seiner Implantate minderwertiges Industriesilikon verwendet. Auch baugleiche Produkte des Herstellers Rofil Medical Nederland B.V. waren betroffen. In der Füllmasse fanden Wissenschaftler Stoffe wie Baysilone, Silopren und Rhodorsil, die sonst eher in der Schmiermittel- und Kautschuk-Herstellung als im OP zum Einsatz kommen. Das weitaus teurere, medizinisch zugelassene Material von NuSil Silicone Technology ließ sich kostengünstig einsparen. Gesundheitsbehörden der „Grande Nation“ reagierten prompt und rieten betroffenen Frauen zur Entfernung der Implantate. Deutsche Ämter zögerten anfangs, waren die genauen Auswirkungen auf den menschlichen Körper noch nicht akkurat erforscht.
Folgen ungewiss
Tritt das minderwertige Silikongemisch etwa infolge eines Risses aus, reagiert der Körper oft mit Entzündungen. Ob der Cocktail aber Krebs auslöst, ist wissenschaftlich umstritten. Große Studien fehlen, einzelne Hinweise sind dennoch nicht vom Tisch zu wischen. Im letzten Jahr etwa berichtete die US-Überwachungsbehörde Food and Drug Administration (FDA) von Frauen, bei denen ein Zusammenhang zwischen Brustimplantaten diverser Hersteller und verschiedener Füllungen mit neu aufgetretenen anaplastischen großzelligen Lymphomen vermutet wird. Als Inzidenz gibt die FDA drei Erkrankungen pro 100 Millionen Patientinnen und Jahr an, 34 Fälle wurden mittlerweile dokumentiert. Davon sind 24 Kissen aus Silikon, sieben jedoch aus Kunststoffbeuteln mit Kochsalzlösung. Ob die PIP-Implantate zu einem erhöhten Risiko führen, ist Gegenstand weiterer Untersuchungen. Auch lassen sich aus allen Daten keine Rückschlüsse auf steigende Brustkrebsraten ziehen.
Entfernen – oder drin lassen?
In Deutschland gab das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgrund dieser Sachlage erst einmal Entwarnung. Man legte Patientinnen lediglich nahe, ihre Klinik beziehungsweise Arztpraxis aufzusuchen und abzuklären, ob überhaupt ein kritisches Produkt implantiert worden war. Die Bundesärztekammer rechnet hier mit 2.800 bis 5.000 Fällen. Sollte das Kissen beschädigt sein, wäre ein Austausch ratsam. Von gerissenen Implantaten berichteten Kollegen bis Ende Dezember aber nur bei 19 Patientinnen. Dann die Kehrtwende Anfang 2012: Auch bei intakten Implantaten kann Füllmaterial „ausschwitzen“ und in den Körper gelangen, gaben die Deutsche Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen (DGPRÄC), die Deutsche Gesellschaft für Senologie (DGS) sowie die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) unisono zu bedenken. Ihr Votum: Produkte mit gepanschtem Silikon müssen raus, aber ohne Eile. Eine Entfernung als Vorsichtsmaßnahme wurde deshalb auch vom BfArM empfohlen.
Kulante Kassen
Für die betroffenen Frauen bleibt neben geringen Operationsrisiken jetzt die große Sorge der Kostenübernahme. Laut Bundesministerium für Gesundheit hätten Patienten zwar Anspruch, die Leistungen von ihrer Kasse zu bekommen, da eine Gesundheitsgefahr bestehe. Waren medizinische Indikationen wie Brustkrebs Grund der Implantation, sind Leistungsträger so oder so in der Pflicht. Bei rein ästhetische Kriterien lassen sich Forderungen aber nicht ausschließen: Im V. Sozialgesetzbuch, Paragraph 52, heißt es dazu, Kassen könnten ihre Patienten angemessen beteiligen, sollten Krankheiten durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation entstanden sein. Einige Versicherer betonten dennoch, sie würden sich kulant zeigen. In Frankreich ordnete sogar das Gesundheitsministerium an, dass staatliche Leistungsträger die Rechnungen zu begleichen hätten. Und Gesundheitspolitiker aus England halten sich zwar mit Empfehlungen bezüglich des Austauschs betroffener Implantate zurück, bei gesetzlich Versicherten bezahlt der National Health Service aber entsprechende Eingriffe. Jetzt fordern Kollegen, aus dem Skandal Lehren für die Zukunft zu ziehen – doch wieso versagten alle Schutzmechanismen?
CE-Kennzeichnung: Muster ohne Wert
Dazu ein Blick über den großen Teich: Von der Food and Drug Administration war PIP-Implantaten nach Kontrollen bereits vor rund elf Jahren die Zulassung verweigert worden – quasi das Aus für den amerikanischen Markt. Weitaus geringere Hürden hatte der Hersteller hier zu Lande nehmen müssen: In Deutschland regelt das Medizinproduktegesetz, welche Produkte in Umlauf gebracht werden dürfen. Essentiell ist eine CE-Kennzeichnung, die Firmen nur dann erhalten, falls sie grundlegende Anforderungen erfüllen. Wie leicht sich Behörden aber an der Nase herumführen lassen, berichtete PIP-Gründer Jean-Claude Mas freimütig der französischen Presse: Er versteckte belastende Dokumente über das verwendete Industriesilikon, um ein CE-Siegel zu bekommen. Jetzt steht der TÜV Rheinland ebenfalls in der Schusslinie: Er hat die Implantate von PIP zertifiziert. Auch die Zentralstelle der Länder für Gesundheitsschutz bei Arzneimitteln und Medizinprodukte hätte aktiv werden können. Normalerweise schreitet sie jedoch nur bei erheblichen Verdachtsmomenten ein – und die hat es eben nicht gegeben. Das Nachspiel folgt: Am 2. Februar müssen TÜV-Vertreter zum Handelsgericht im französischen Toulon. Drei Firmen, die Implantate von PIP vertrieben hatten, werfen der Einrichtung Unterlassungen bei der Prüfung vor. Die französische Medizinproduktebehörde Agence française de sécurité sanitaire des produits de santé (Afssaps) wird davon ebenfalls nicht verschont bleiben, vermuten Juristen.
Bessere Kontrollen – bessere Ärzte?
Als Lehre für die Zukunft fordern Vertreter der Gesundheitsberufe deshalb geeignete Maßnahmen zur Qualitätssicherung für Medizinprodukte in Deutschland – unter anderem ist von einem Zulassungsverfahren die Rede. Ähnliche Ansätze kommen aus Frankreich, und die Europäische Union hat ebenfalls strengere Regeln in Arbeit. Dazu gehört ein System, um den Weg von Implantaten lückenlos zu dokumentieren. Speziell im Fall der PIP-Silikonkissen möchten Epidemiologen Daten aller Patientinnen sammeln, um die langfristigen Risiken besser abschätzen zu können. Auch planen Politiker aus Brüssel, alle Zulassungsinstitute künftig gründlicher unter die Lupe nehmen.
Deutschland wird entsprechende Überlegungen nicht vom Tisch wischen können: Ist das Medizinproduktegesetz noch zeitgemäß? Und braucht es nicht doch eine zentrale Prüfstelle, die regelmäßig und ohne Verdachtsmomente Proben aus der laufenden Produktion untersucht? Die Bewertung des Nutzens könnte ein weiteres Thema sein, zumindest bei Produkten höherer Risikoklassen wie Stents, künstlichen Gelenken – oder eben Silikon-Implantaten.
Auch gegenüber Kollegen wurden Vorwürfe laut. Qualitätsprodukte für Brustvergrößerungen schlagen üblicherweise mit mindestens 400 Euro zu Buche, vier Mal mehr, als Implantate des Herstellers Poly Implant Prothèse kosteten. Allein das hätte zu denken geben müssen. Aus den Reihen des GKV-Spitzenverbands kommt nun die Forderung, verbindliche Mindeststandards für die Schönheitschirurgie zu schaffen, momentan gilt das nur für die Facharztbezeichnung „Plastische Chirurgie“. Vertreter der Bundesärztekammer sehen allerdings keine Notwendigkeit: Man habe mit dem Weiterbildungsrecht seit langem die Grundlagen geschaffen, dass nur ausreichend qualifizierte Ärzte entsprechende Eingriffe vornehmen dürften.