Bei Patienten mit Hirnschäden kommt es zu Wellen im Kopf, die sich wie ein Tsunami über die Hirnrinde ausbreiten. Jetzt konnten Forscher zeigen, dass das Phänomen mit der Prognose des Patienten korreliert. Damit bieten sich neue Ansatzpunkte für Monitoring und Therapie.
Bei Patienten mit Subarachnoidalblutung machen Neurologen oft eine Beobachtung, die sich lange Zeit niemand erklären konnte. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die eigentliche Blutung und damit der akute Hirnschaden schon ein paar Tage zurück liegen, verschlechtert sich bei einem Teil der Patienten plötzlich die klinische Symptomatik. Es entwickeln sich neue Schlaganfallsymptome, die in ihrer ganzen Ausprägung nicht so recht zur Lokalisation der Blutung passen wollen. Neben den teilweise frappierenden Unterschieden im Langzeitverlauf (DocCheck berichtete) war diese bis dato unvorhersehbare Akutkomplikation ein weiteres großes Rätsel bei Patienten mit akutem Hirnschaden.
Die Kalium-Katastrophe nimmt ihren Lauf
Nach jahrelangen Experimenten mit Modelltieren haben Forscher einen möglichen Mechanismus für das Phänomen des „Schlaganfalls mit Latenz“ gefunden. So scheint es bei jenen Patienten, die eine verzögerte Symptomatik entwickeln, als Folge eines massenhaften Kaliumefflux aus den Nervenzellen zu wellenartigen Depolarisationen im Gehirn zu kommen, die sich vom Ort der Hirnverletzung ausgehend über die kortikalen Neurone hinweg in alle Richtungen ausbreiten. „Eine Depolarisation bedeutet letztlich, dass die Nervenzellen wie eine Batterie entladen werden“, sagte Professor Jens Dreier von der Klinik für Neurologie der Charité Berlin. Dadurch steigt der Bedarf an Sauerstoff und Glukose, damit die Nervenzellen wieder „aufgeladen“ werden können. Doch das geschädigte Hirn kann darauf nicht mehr physiologisch reagieren: „Statt die Blutgefäße weiter zu stellen, um der geänderten Versorgungslage Rechnung zu tragen, kommt es teilweise sogar zu einer Verengung der Gefäße“, so Dreier.
Ein möglicher Grund dafür ist, dass das bei Hirnblutungen austretende Hämoglobin genau jene Stickstoffmonoxidmoleküle abfängt, die die Gefäße eigentlich erweitern sollten. Mittlerweile können klinisch tätige Neurologen zumindest auf neurologischen Intensivstationen diese Prozesse beobachten: Die elektrischen Monsterwellen lassen sich mit Hilfe von intrakraniellen Elektroden elektrokortikographisch messen. Das ist deswegen möglich, weil Patienten mit traumatischen Hirnschäden oft ohnehin operiert werden, sodass ein Elektrodenstreifen ohne zusätzlichen Eingriff auf der Hirnoberfläche platziert werden kann. Nicht klar war bisher allerdings, ob die elektrischen Wellen nur ein Begleitphänomen bei schweren Hirnschädigungen sind, oder ob sie nicht vielmehr ein eigenständiger pathophysiologischer Mechanismus sein könnten, der direkt zu einem schlechten Outcome beiträgt. Wäre das so, dann böten sich an dieser Stelle ganz neue therapeutische Ansatzpunkte.
„Spreading Depolarisations“ sind unabhängiger prognostischer Faktor
Um hier weiterzukommen, haben sieben neurologische Zentren in den USA und Europa vor sieben Jahren eine prospektive Beobachtungsstudie bei Patienten mit schweren Hirnschäden gestartet, die jetzt mit einer Publikation in der Fachzeitschrift Lancet Neurology zum Abschluss gekommen ist. Bei 109 Patienten, die wegen einer traumatischen Hirnschädigung einen neurochirurgischen Eingriff benötigten, wurden die kortikalen Depolarisationen erfasst. „Das Ziel war, festzustellen, ob die Depolarisationen mit einem ungünstigeren Verlauf korrelieren, und zwar unabhängig von anderen bekannten Faktoren, die das Outcome dieser Patienten beeinflussen“, so Dreier.
Dies scheint tatsächlich der Fall zu sein. Konkret haben sich die Wissenschaftler zwei Varianten der „Spreading Depolarisations“ – so die korrekte Bezeichnung der Monsterwellen – angesehen. Bei isoelektrischen Depolarisationen (ISD) gibt es vorher keine spontane elektrokortikografische Aktivität. Bei kortikal sich ausbreitenden Depressionen (CSD) dagegen wird eine vorher nachweisbare elektrokortikographische Aktivität durch die „Welle“ unterdrückt. Insbesondere die ISD-Variante korrelierte den Studienergebnissen zufolge hoch signifikant mit einem schlechteren klinischen Outcome nach sechs Monaten. Das Risiko eines schlechten Outcomes lag bei Patienten mit ISD-Wellen um mehr als den Faktor sieben höher. Insgesamt zeigten 85 Prozent der ISD-Patienten, 53 Prozent der CSD-Patienten und „nur“ 42 Prozent der Patienten ohne wellenförmige Depolarisationen einen ungünstigen Verlauf.
Therapieansätze werden noch gesucht
Das im Hinblick auf einen mögliche klinische Bedeutung der Monsterwellen entscheidende Ergebnis der Studie ist nun, dass die Korrelation mit einem schlechteren Outcome statistisch unabhängig von praktisch allen anderen bekannten Risikofaktoren war. Speziell untersucht wurde unter anderem ein Zusammenhang mit der Glasgow Coma Scale, dem Alter der Patienten, der Pupillenreaktion, der Marshall-Kategorisierung im CT, niedrigem Blutdruck und Hypoxie. Weder korrelierten diese einzelnen Variablen mit dem Auftreten von Depolarisationen noch ein aus diesen Parametern errechneter prognostischer Score.
„Wir können immer noch nicht mit letzter Sicherheit sagen, dass es wirklich einen kausalen Zusammenhang zwischen ‚Spreading Depolarisations‘ und einem schlechteren Outcome gibt. Aber es ist jetzt schon relativ wahrscheinlich“, sagt Dreier. Den definitiven Beweis kann nur eine prospektive Interventionsstudie bringen, bei der freilich bisher noch nicht so ganz klar ist, wie die Intervention aussehen könnte. Grundsätzlich gäbe es zwei Möglichkeiten: Entweder es wird versucht, die elektrischen Wellen zu durchbrechen. Oder aber man verbessert die Durchblutung, um die Folgen der Massendepolarisation abzumildern.