Immer häufiger führen marginale Formfehler zu Null-Retaxationen bei BtM-Rezepten. Wittern Kassen hier eine zusätzliche Einnahmequelle? Apothekenkammern und -verbände raten im Zweifelsfall zur harten Tour: Patienten beim geringsten Formfehler zurück in die Praxis schicken.
Kassen gegen Apotheken: Im Herbst 2011 ließ die Novitas BKK 60.000 BtM-Rezepte der letzten zwei Jahre systematisch prüfen – zum Schutz der Patienten, versteht sich. Sie drohte Apothekern Kürzungen bis hin zur Null-Retaxation an. Wie sich bald zeigte, waren das keinesfalls leeren Versprechen.
Besonders arg erwischte es einen Apotheker aus Filderstadt, Baden-Württemberg: Er hatte unter anderem fünf BtM-Rezepte erhalten, vom Arzt war das Aut idem-Kreuz jeweils handschriftlich angebracht worden. Das führte zu Retaxationen von über 35.000 Euro. Kein Einzelfall – deshalb untersuchten die Apothekerverbände Hamburg und Bremen Retax-Gründe im Detail, und fanden handschriftliche Aut-idem-Kreuze wie beim Kollegen aus Filderstadt oder mit dem Kugelschreiber ergänzte Telefonnummern. Allerdings steht nirgends vermerkt, dass speziell BtM- oder T-Rezepte mit dem Computer zu beschriften sind, manche Praxissoftware hat damit ohnehin ihre liebe Not. Dem kritischen Auge der Prüfer reichte auch für eine Null-Retaxation, dass als Einnahmeverordnung statt „3 x 1 Tablette täglich“ nur „3 x täglich“ zu lesen war oder die Apotheke bei einer unklaren Verordnung „laut ärztlicher Anweisung“ statt „gemäß schriftlicher Anweisung“ notiert hatte. Generell handelt es sich hier um Formfehler von Praxen; Apotheken gaben die richtigen Präparate ab. Ein wirtschaftlicher Schaden ist damit jedenfalls nicht entstanden. Auch lieferten die Taxbeanstandungen keine Hinweise, dass Patienten gefährdet wurden.
Neuer Rabattvertrag – Präparat nicht lieferbar
Generell sind von der Praxis vieler Kassen nicht nur BtM betroffen. Die AOK hatte etwa mit Betapharm einen Rabattvertrag für Metoprolol abgeschlossen, nur war der Wirkstoff erst einmal nicht lieferbar. Dem Hersteller wurden sogar drei bis vier Monate Kulanzzeit zugebilligt. Kein Einzelfall – Kollegen berichten, dass etliche Pharmafirmen ihre Präparate gar nicht oder nicht in der geforderten Menge bereitstellen konnten. Apotheker substituierten, und mussten sich den Vorwurf der Bereicherung gefallen lassen. Erneut kam es zu Retaxationen.
Andere Betriebskrankenkassen beteiligten sich ebenfalls, etwa die BKK Gesundheit West, die die BKK Gildemeister Seidensticker, die BKK Hoesch, die BKK vor Ort oder die BIG direkt gesund. Schnell entwickelte sich die Sache zum Politikum, und immer mehr Apotheken bekamen Nachzahlungen in bis zu vierstelliger Höhe. Der Landesapothekerverband Baden-Württemberg berichtete allein im Kammerbezirk von etwa 300 Fällen, in denen hochpreisige Rezepte auf null retaxiert worden waren. In einer offensiven Medienkampagne informierten die Standesvertreter daraufhin Apotheker, Kunden und Ärzte.
Von Rechts wegen
Rechtlich steht das Vorgehen ohnehin auf tönernen Füßen: Juristen bemängelten, dass bei vielen Retaxationen Begründungen fehlten, ein Hinweis auf die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) allein reicht nicht aus. Sie erstaunt das Vorgehen mancher Kassen umso mehr, als ja Leistung erbracht worden ist. Doch genau da liegt auch die Chance für Apotheker und ihre Standesorganisationen, anzusetzen und sich zu wehren. Auch kartellrechtliche Aspekte sind zu nennen: Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) führt aus, dass eine missbräuchliche Ausnutzung der marktbeherrschenden Stellung durch Unternehmen – und damit auch durch große Krankenkassen – nicht zulässig ist (§ 19 GWB). Diese dürfen andere Partner des Marktes nicht in der Ausübung ihrer Tätigkeit behindern beziehungsweise ohne sachlich gerechtfertigten Grund unterschiedlich behandeln (§ 20 GWB). Doch wer darf eigentlich BtM-Rezepte retaxieren?
Kompetenzen überschritten
Hier mischte sich die Düsseldorfer Bezirksregierung in die Debatten ein. Sie vertrat die Ansicht, Kassen seien zu Retaxationen von Betäubungsmittel gar nicht berechtigt. Vielmehr sahen Politiker die Bundesopiumstelle am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in der Pflicht, vor allem bei vermeintlichen Verstößen gegen geltendes BtM-Recht. Umso mehr forderten sie das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesversicherungsamt auf, dem Retax-Spuk ein Ende zu machen. Jens Spahn, gesundheitspolitischer Sprecher der Union, kritisierte, dass Vertrauen zerstört und Arbeitskraft unnötig gebunden werde. Was ist der Grund? Kollegen vermuten, so manche Kassen versuche, sich teilweise auf Kosten von Apothekern und Patienten zu bereichern – vielleicht, um Zusatzbeiträge zu vermeiden?
Neues Jahr, neue Retaxation
Schließlich musste die Novitas BKK einlenken und alle Retaxationen für das vierte Quartal 2011 einstellen. Die Verantwortlichen zeigten Verständnis für den Einwand vieler Apotheker, sie hätten Schmerzpatienten in Notsituationen versorgt und würden jetzt für Versäumnisse der Ärzte zur Rechenschaft gezogen. Auch inhaltlich ruderte die BKK zurück: Bei weitaus mehr als der Hälfte aller geprüften Rezepte sei ohnehin nichts zu beanstanden gewesen. Man versprach, alle Gelder schnellstmöglich zurückzuzahlen sowie Retax-Einspruchsfristen künftig abzuwarten. Vielleicht ein Auslöser: Im Vorfeld hatten einige Apotheker angedroht, Versicherte dieser Kasse nicht mehr zu beliefern. Doch auch sie mussten sich Kritik gefallen lassen: Der gesetzlichen Prüfauftrag sei nicht erfüllt worden, hieß es aus BKK-Kreisen. Aber auch Ärzte bekamen ihr Fett ab, die Kasse monierte unverständliche Einnahmeanweisungen wie „10 Stk. alle 72 Stunden“. Um diese Praxis zu ändern, will die Novitas BKK zusammen mit der regionalen Kassenärztlichen Vereinigung eine genauere Verschreibungspraxis umsetzen.
Heiter weiter?
Der einseitig proklamierte Frieden wird nicht von allzu langer Dauer sein, ab Januar sollen BtM-Rezepte wieder gründlich unter die Lupe genommen, sprich gegebenenfalls retaxiert, werden. Manche Kammern und Verbände bieten deshalb spezielle Informationen an, wie mit Rezepten der BKKen umzugehen ist. Sicher wertvoll für die Offizin, Patienten wird das aber wenig freuen. Sie würden nach wie vor in dringenden Fällen versorgt, bei kleinsten Formfehlern müsse man jedoch Korrekturen anfordern, hieß es aus den Standesvertretungen.
Allein das formal richtige Vorgehen erscheint bei Schmerzpatienten mehr als unmenschlich: zurück zum Arzt, das Rezept verbessern lassen, inklusive Unterschrift. Und dann wieder in die Apotheke. Ganz zu schweigen von Kunden, die am Samstag ihre BtMs abholen möchten, eine Praxis wird da nicht erreichbar sein. Bleibt nur der Bereitschaftsdienst oder die Klinik.