Ende 2011 hat die EU-Kommission Bestandteile des Korbblütlers Stevia als neuen Süßstoff zugelassen. Dem ging eine kontroverse Diskussion über mögliche Gesundheitsschäden voraus. Kunden in der Apotheke äußern sich zunehmend verunsichert: Sind die pflanzlichen Inhaltsstoffe im Vergleich zu etablierten Substanzen wirklich harmlos?
Ein Traum, fast so alt wie die Menschheit selbst: Schlemmen ohne Kalorien, ohne Karies. Mit Süßstoffen kamen Chemiker diesem Ziel sehr nah. Sie synthetisierten bereits 1878 ein Molekül, das später unter dem Namen Saccharin bekannt werden sollte. Wie so oft, steckte dahinter der Kommissar Zufall: Ein Reaktionsansatz verselbständigte sich und lief dem Chemiker Constantin Fahlberg (1850 – 1910) über die Finger. Bald darauf bemerkte er den süßen Geschmack der Substanz – die Stunde null der Süßstoffe hatte begonnen.
Süßer als süß
In den folgenden Jahrzehnten fanden Wissenschaftler etliche Moleküle mit beträchtlichem Potenzial. Eine Zulassung in der EU erhielten dabei folgende Substanzen:
Kombinationen sind möglich, sowohl mit anderen Süßstoffen als auch mit Zuckeraustauschstoffen, also Zuckern, die insulinunanbhängig verstoffwechselt werden. Trotz der Zulassung blieben einige Bedenken: Gerade die ältesten Vertreter schienen bei Tieren eine karzinogene Wirkung zu haben, Blasenkrebs trat in einzelnen Untersuchungen vermehrt auf, andere Studien widerlegten die Hinweise. Eine große Metaanalyse entkräftete schließlich alle Befürchtungen für Saccharin und Cyclamat. Auch fanden die Autoren keine Anhaltspunkte für eine karzinogene Wirkung von Aspartam. Damit gab das Bundesinstitut für Risikobewertung für „alte“ Süßstoffe grünes Licht, sollte die maximal erlaubte Tagesdosis (Acceptable Daily Intake, ADI) nicht überschritten werden. Bei Produkten der zweiten Generation sind derartige Bewertungen noch schwierig, da langfristige Erfahrungswerte fehlen. Die Sorge vieler Konsumenten blieb bestehen, und Forscher machten sich auf die Suche nach weiteren Molekülen.
Süßes aus Südamerika
Aus den Blättern der südamerikanischen Pflanze Stevia rebaudiana extrahierten Naturstoffchemiker diverse Steviolglycoside. Deren Vorteile liegen in der jahrhundertelangen Erfahrung: Rund um Paraguay beziehungsweise Brasilien ist die Pflanze seit Ewigkeiten bekannt und beliebt, Ureinwohner trockneten die Blätter und mengten das Pulver verschiedenen Tees bei. Vor allem Steviosid beziehungsweise Rebaudiosid A schmecken bis zu 300 Mal süßer als Rohrzucker. Aus heutiger Sicht ist der Effekt Segen und Fluch zugleich: Wo Saccharose für die „Galenik“ von Süßspeisen wichtig ist – etwa in Kuchen – werden Stevia-Glycoside ihm nicht den Rang ablaufen, hofft die Zuckerindustrie. Anders sieht es schon wieder bei Softdrinks aus. Hier könnte sich ein riesiger Markt auftun, und das Zulassungsprocedere begann.
Harmlos – oder nicht?
In Japan sind Stevia-Extrakte bereits seit 1975 erhältlich. Nachdem ältere Studien Hinweise auf eine mögliche Mutagenität ergaben, verhängte die USA kurzerhand strikte Einfuhrverbote, die sich bis 1995 immer weiter lockerten. Seit 2009 dürfen die allseits beliebten Softdrinks offiziell mit Glycosiden aus dieser Pflanze gesüßt werden, und damit wuchs die Fangemeinde auch in Deutschland, nur gab es eben keine Zulassung. Mit allerlei Tricks versuchten Firmen deshalb, Stevia hier zu Lande in den Handel zu bringen: als Kosmetikum, als Badezusatz oder als Duftmischung. Befürworter argumentieren, die jahrzehntelange Anwendung in Japan und die sogar Jahrhunderte zurückgehende Tradition in Südamerika habe keine Hinweise auf mögliche Schadwirkungen ergeben. Allerdings lieferten Tierexperimente hinsichtlich einer möglichen Auswirkung auf die Fertilität kein einheitliches Bild. Untersuchungen beschäftigten sich auch mit der Frage, ob Steviol, ein Stoffwechselprodukt des Steviosids, schädlich wirkt. Zumindest bei Hamstern zeigten sich Anhaltspunkte auf eine teratogene Wirkung. Als methodische Kritik war allerdings zu lesen, dass die Tiere vielfach mit abiotisch hohen Mengen an Stevia gefüttert worden seien – hätte man Rohrzucker verwendet, wären ebenfalls diverse Erkrankungen aufgetreten.
Europa entscheidet
Jetzt mussten Gremien der EU über die Zulassung befinden. Auch der Gemeinsame FAO/WHO-Sachverständigenausschuss für Lebensmittelzusatzstoffe (Joint FAO/WHO Expert Committee on Food Additives - JECFA) überprüfte alle Daten des Naturstoffs etliche Male. Aus Tierexperimenten leiteten Toxikologen schließlich eine tägliche Höchstmenge von vier Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht ab: Sie ermittelten die maximale Dosis, bei der noch keine schädigende Wirkung auftrat, und versahen diesen Wert mit einem 100-fachen Unsicherheitsfaktor. Unter diesen Voraussetzungen vertreten heute alle Gremien die Ansicht, dass Stevia keine schädlichen Auswirkungen hat.
Höchstmengen überschritten
Allerdings plant die Nahrungsmittelindustrie, Stevia-Glycoside in Softdrinks, Süßwaren ohne Zuckerzusatz, Joghurts, Müsli, Schokoladen oder kalorienarmen Suppen zu verwenden. Kurz nachgerechnet: Unter Berücksichtigung durchschnittlicher Konsumgewohnheiten kam die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) auf neue Eckdaten. Bei Kindern etwa liegt die mögliche Aufnahme bei bis zu 16,3 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag. Auch Erwachsene überschreiten den empfohlenen Wert, sie kommen auf bis zu 6,8 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag. Damit ist der schwarze Peter wieder bei der EU – es gilt, nachzujustieren. Bis 2020 sollen zudem alle älteren Süßstoffe erneut unter die Lupe genommen werden.